Gigerheimat: Heimat

Reizwort Heimat / Forts.

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Heimat

Es gibt Worte, die kranken daran, dass sie keine Mehrzahl haben. Im Falle von Heimat ist "kranken" durchaus wörtlich zu nehmen. Gegen die Verwendung der Einzahl sprachen lange zu viele historische Erfahrungen vor allem im im deutschsprachigen Raum, in den das Wort Heimat ja genuin gehört. Das wird sich wieder ändern, und zwar umso schneller, je bewusster uns wird, dass Heimat in der deutschen Sprache keine Mehrzahl haben mag, in der Realität aber sehr wohl.

Wenn heimatttrunkene Soldaten in den Krieg ziehen, gibt es für sie nur eine Heimat: ihr Land. Wenn ich mich dagegen selber frage, was mir alles Heimat bedeutet, wird die Liste ellenlang: Da ist zunächst die Landschaft, die ich aus meinen Fenstern sehe, rollende Hügel mit dunklen Wäldern, kleine Dörfer und Weiler, am Horizont Bergketten, weit unten die Ränder einer Stadt. Ein selten schönes Stück Heimat fürwahr, in dem ich jetzt fast ein Jahrzehnt lebe.

Doch da gibt es auch die grosse Stadt, in der meine Liebste lebt - auch sie ist durch häufige Aufenthalte zur Heimat geworden - zur zweiten vielleicht ? Und da gibt es noch diese eine Ecke auf einer Mittelmeerinsel, in der wir jetzt schon etliche Male Ferien gemacht haben, und auch da stellt sich mittlerweile bei der Ankunft sofort ein Gefühl von Heimat ein.

Es wäre noch die Gegend zu nennen, in der ich aufgewachsen bin. Und mehrere Städte und Orte, in denen ich eine Zeit meines Lebens verbracht habe. Auch sie waren einst unverkennbar Heimat und sind es ein wenig noch immer. Ja, es gibt Orte, bis hin zum fernen Patagonien, in denen ich nur einige Tage verbracht habe, und die doch, wenigstens für kurze Zeit, Heimat wurden.

Ach ja, da wären auch noch die grösseren Gebilde zu nennen wie mein Land, die Schweiz, die auf ihre Weise ebenfalls Heimat bedeuten - bis hin zum guten alten Europa. Entfernungen bedeuten in diesem Fall nichts, in anderen sind sie wichtig: Meine engere Umgebung, die ich zu Fuss durchstreifen kann, ist dichter und intensiver Heimat als die weitere.

Bisher war nur von geographischen Räumen die Rede, die Heimat sein können. Doch Heimat finde ich natürlich auch in sozialen Räumen, im Netz jener Menschen, die mir etwas bedeuten, ganz unabhängig davon, wo sie leben. Und da gibt es auch die unscheinbareren sozialen Heimaträume wie den Laden, in dem ich bevorzugt einkaufe, oder die Leute auf der Strasse, die mich grüssen.

Dann gibt es, noch abstrakter, durchaus auch bestimmte Werte-Räume, in denen ich mich zuhause fühle, Wertelandschaften, die ein Stück Heimat bieten. Und auch Zeit-Räume können Heimat sein.

Das ist nur meine unvollständige Liste, Sie werden einen anderen Mix von Heimaten zusammenstellen, mit anderen Prioritäten vielleicht, geprägt von anderen Erfahrungen. Doch eines wird immer ähnlich sein: Wenn Sie sich fragen, was denn das verbindende Element, der gemeinsame Nenner all dieser Heimaten sei, werden Sie unweigerlich zum Schluss gelangen, dass Heimat kein Ort ist, sondern eine Empfindung.

Heimat ist die Empfindung einer Verbindung, einer Beziehung zu einem Ort in geographischen, sozialen oder anderen Räumen. Wenn ich diese Empfindung von Heimat in Worte fassen soll, taucht bei mir immer dasselbe Bild auf: Es geht um das Gefühl, Wurzeln geschlagen zu haben. Das bedeutet, wie beim Baum oder der Blume, zunächst einmal, Halt und Nahrung zu finden.

Für die superflexiblen Globalisierungsnomaden, die überall auf der Welt ihre Zelte ebenso leicht wieder abbrechen, wie sie sie aufgeschlagen haben, ist das natürlich kein Thema, Verwurzelung, Verankerung oder Halt. Der Witz ist nur: Es handelt sich dabei um eine sehr seltene Spezies. Der grosse Rest der Menschheit hat für diese Lebensweise nicht das geeignete Nervenkostüm. Wie ein dürres Blatt von den Stürmen des Zeitgeistes mal da, mal dorthin geweht zu werden, macht diese Menschen nicht glücklich, sondern krank.

Wer das Gefühl hat, ihr oder ihm würde der feste Boden unter den Füssen weggezogen, fühlt sich verloren, verunsichert, orientierungslos. Es fehlt die tragfähige Basis, es fehlen die Wurzeln, und ein Baum ohne ausreichende Wurzeln verkümmert. Die meisten Menschen brauchen also das Gefühl von Heimat, von Verbundenheit und Verwurzelung. Heimat ist eine Vorbedingung von Wohlbefinden.

Das gilt in Zeiten verstärkter Mobilität - in geographischer wie in sozialer Hinsicht - nicht etwa weniger, sondern mehr: Je ausgeprägter die Globalisierung, desto stärker das Bedürfnis nach Heimat, nach festen Inseln in stürmischer See. Inseln, auf die man vertrauensvoll seinen Fuss setzen kann.

Das macht Heimat ganz wesentlich aus: Heimat ist ein Raum, in dem man sich wohl fühlt, weil er vertraut ist. "Vertraut" meint beides, den Aspekt der Bekanntheit, des nicht Neuen und Überraschenden, und den Aspekt des Vertrauens: Dem, was vertraut ist, kann man trauen, weil man es kennt.

Die Lobpreisung von Heimat als Ort des Vertrauten klingt furchtbar altmodisch in einer Zeit, die das Neue verabsolutiert, in der nur kühne Innovationen zählen und bahnbrechende Erfindungen. Besonders ausgeprägt ist diese Haltung immer dann, wenn es um die Zukunft geht: Viele Menschen denken sich Zukunft ausschliesslich als neu, unbekannt und innovativ. Dass Zukunft nicht nur zu wesentlichen Teilen, sondern vermutlich überwiegend, aus Bekanntem und Bewährtem, also aus Vertrautem, bestehen wird, blenden sie dabei aus.

Eine völlig neue und unbekannte Zukunft wäre ein schrecklicher Ort zum Leben, denn dafür sind wir definitiv nicht gemacht. Wir sind zwar süchtig nach Neuem, nach Veränderungen, nach Bewusstseinserweiterung - das einzige, was unser Gehirn nicht kann, ist nicht zu lernen - aber wir sind gleichzeitig ebenso süchtig nach Vertrautheit. Ohne Wurzeln gibt es keine in den Himmel wachsenden Bäume.

Deshalb brauchen die Menschen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Heimat, einen Ort, an den und zu dem sie gehören, der ihnen vertraut ist und dem sie trauen können. Weil die Gegenkräfte des globalisierten Wandels zunehmen, wächst auch dieses Bedürfnis: Heimat hat Zukunft.

Nur eben nicht in der Einzahl.

Sicher, es gibt auch in unseren Breitengraden noch nicht unbeträchtliche Teile der Bevölkerung, denen eine geographische Heimat genügt, weil sie da geblieben sind, wo sie geboren wurden, dort tiefe Wurzeln geschlagen haben und sich dabei durchaus wohl fühlen. Für viele aber bleibt diese Lebensweise bestenfalls ein schöner Traum, dem sie vielleicht mal bei einem schnulzigen Heimatfilm nachhängen, ohne ihn wirklich realisieren zu wollen oder zu können.

In grösseren Zeiträumen betrachtet scheint es fast so, als ob die Menschheit nach einer kurzen Phase echter Sesshaftigkeit wieder zu ihren Anfängen zurückkehrt, zu einem Leben als Nomaden. Zwar leben sie in der Regel nicht mehr in Zelten, sondern in festen Häusern, aber das Wechseln von Wohnungen und Wohnorten in mehr oder weniger grossen Zeitabständen ist zu einem normalen Bestandteil auch mitteleuropäischer Biographien geworden.

Genau so normal übrigens wie der Wechsel von Beruf und Arbeitgeber, von Lebenspartner und Lebensform, von Bekanntenkreisen und sozialen Milieus. Wo aber Bezugsräume aller Art dauernd ausgewechselt werden, hat die klassische Bedeutung von Heimat als dem einen Ort, an dem man sich fest einnistet, keine Zukunft mehr.

Ein ähnliches Phänomen finden wir bei den Liebesbeziehungen: Das Modell der lebenslangen Treue ist nicht völlig verschwunden, hat aber mächtig an Bedeutung gewonnen. Ersetzt worden ist es jedoch nicht durch ein Modell allgemeiner Beliebigkeit. Zum Standardmodell gemausert hat sich stattdessen jenes der sequenziellen Treue. Solange man mit einem Partner zusammen ist, gibt es eine intensive Beziehung, wenn es vorbei ist, beginnt die nächste.

Auch mit einer vorübergehenden Heimat kann man analog eine intensive Beziehung entwickeln, ohne dass daraus lebenslänglich werden muss. Was hingegen bei Liebesbeziehungen nur in seltenen Glücksfällen gelingt, ist bei einer verflossenen Heimat ohne Weiteres möglich: Man kann jederzeit wieder für einen Moment zurück kehren und die vertrauten Gefühle von Verwurzelung für eben diesen Moment wieder beleben. Was, wie meine eigene Erfahrung zeigt, eine echte Bereicherung sein kann.

Viele Heimaten zu haben ist nicht zwangsläufig besser als "nur" eine, aber es ist mit Sicherheit auch nicht schlechter. Ob daraus Bereicherung wird, ist ausschliesslich eine Einstellungsfrage. Weil das entscheidende Element von Heimat nie aussen liegt, sondern immer innen, braucht es einen Akt von Bewusstseinserweiterung, um genügend Platz für die Empfindung von Verbundenheit mit unterschiedlichen Räumen zu schaffen, die sich nicht ausschliessen, sondern ergänzen. Den Platz gibt es durchaus, man muss ihn nur sehen.

Das Bild von Heimat als einem von starren Grenzen umgebenen Ort, über dem Blut- und Boden-Dünste wabern, verblasst allmählich. Und das ist gut so. Denn so entsteht Raum für ein neues, unverkrampfteres, ja auch nüchterneres Bild: Wir brauchen Heimat, oder eben Heimaten, für unsere Psychohygiene. Zu diesem Wesenskern unserer Heimatsehnsucht dürfen wir stehen, ohne deswegen den ganzen unappetitlichen Rattenschwanz an Gefühlsschwulst früherer Heimatbegriffe übernehmen zu müssen. Selbst in Deutschland wird allmählich der feine, aber entscheidende Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus wieder bewusst: Ein Patriot liebt sein Land, ohne die anderen zu hassen, der Nationalist verabsolutiert das eigen Land. Diese Differenzierung gilt nicht für die Heimat Land, sondern für jede.

Wer mit seinen Heimaten wirklich vertraut ist, braucht für sie keine starren Grenzen. Im Gegenteil: Die Verwurzelung gibt ihm oder ihr die Kraft, offen und neugierig die Grenzen der eigenen Heimaten zu überschreiten, anderswo neue zu entdecken und sie in die Perlenkette der angeeigneten Heimaten einzureihen. Nicht ohne Grund haben die Götter vor und nach der Ersteigung der höchsten Gipfel das Basislager gesetzt.

Heimat behindert Mobilität also nicht, verankert sie nur besser in unseren Innenräumen. Und beschneidet vielleicht die ärgsten Auswüchse unseres Mobilitätswahns: Wenn wir akzeptieren, dass wir ein legitimes Bedürfnis nach Heimat haben, werden wir die Empfindung von Vertrautheit aktiv fördern, indem wir den Ort, an dem wir gerade sind, noch offener und neugieriger entdecken und dabei der Lust an der Differenzierung im Nahbereich frönen. Nahlust statt Fernweh ist eine der Konsequenzen der zu erwartenden zunehmenden Bedeutung von Heimat in unseren Lebenskonzepten.

Die Neuverzauberung von Heimat wird direkt etwas mehr Ruhe und Gelassenheit bewirken. Das Gefühl, von einem hektischen Drang getrieben zu sein, immer lieber irgendwo anders sein zu wollen als da, wo man gerade ist, wird schwinden, man wird sich eher darauf einlassen, ein Weilchen länger zu bleiben. Um Wurzeln zu schlagen. Um eine neue Heimat zu finden.

Das alles gilt keineswegs nur für geographische Räume. Auch in den sozialen Räumen wächst der Bedarf nach weniger Hektik und mehr Konstanz wieder. Die "Verwesentlichung des Beziehungsnetzes" gehört zu den wichtigsten Auswirkungen der sich ausbreitenden Lebensphilosophie des Essenziellen: Statt von einer oberflächlichen Party zur nächsten zu rasen, schafft man sich lieber ein Stück vertrauter Heimat im sozialen Raum.

Auch in den inneren Räumen wird sich ein neues Heimatverständnis etablieren: Heimat finde ich da, wo ich auf vertraute Werte, Ideen, Ideale und andere geistige Inhalte treffe - ein Muster, das sich nicht nur auf Menschen, Bücher oder Filme anwenden lässt, sondern ebenso gut auf Unternehmen oder Marken: Eine geistige Heimat anbieten zu können, wird zum Wettbewerbsvorteil.

Ein weiteres Motiv wird der Karriere des Reizwortes Heimat Schubkraft verleihen: das sich ausbreitende Projekt der Selbstoptimierung. Sich selbst einem optimierten Entwurf von sich anzunähern ist das Ziel, mehr Lebenssinn und Wohlbefinden der Lohn. Es geht darum, in sich selbst Heimat zu finden, sich selber Heimat zu sein, denn ohne das gibt es weder Sinn noch Wohlbefinden.

Spätestens jetzt gilt es, von einem weiteren Element des alten Heimatbildes Abschied zu nehmen: Heimat ist nicht fest und unveränderlich. Wenn wir uns denn selbst Heimat sein wollen, dann heisst das immer auch, unsere Veränderungen zu akzeptieren, unseren eigenen Wandel lieben zu lernen. Heimatverbundenheit heisst deshalb innen wie aussen, den Blick und die Liebe sowohl für die konstante Essenz wie für die dynamische Form dessen, was uns Heimat ist, zu entwickeln und zu schärfen.

Noch reizt das Wort Heimat gerade in den gebildeten Ständen eher zu einer Gefühlspalette von Skepsis bis Abscheu. Dafür kann das Wort aber nichts. Die Zeit ist reif zu entdecken, dass das Wort auch eine Menge positiver Reize zu bieten hat.