Wir
              Menschen unterliegen nicht nur den Gesetzen der Biologie, sondern auch jenen
              der Physik, und das heißt, dass Raum und Zeit für uns wichtige Phänomene sind.
              Und damit für unsere Lebensqualität.
            Das
              menschliche Verhältnis zum Raum ist geprägt von zwei unterschiedlichen
              Erbschaften: Den größten Teil unserer Geschichte als biologische Art haben wir
              als herumstreifende Nomaden verbracht, doch seit nunmehr rund zehntausend
              Jahren leben wir sesshaft, seit kurzer Zeit (global betrachtet) sogar
              mehrheitlich in Städten. 
            Ganz
              sesshaft geworden sind wir allerdings nicht, das Nomadentum steckt nach wie vor
              in uns. Das zeigt sich kollektiv gesehen am Ausmaß unseres Reiseverhaltens:
              Kaum ist es wirtschaftlich möglich, beginnen die Menschen überall auf der Welt
              zu verreisen. Und es zeigt sich auf der persönlichen Ebene in unseren immer
              wiederkehrenden Anflügen von Fernweh, wobei wir uns nach einer gewissen Zeit
              meist doch wieder nach unserem Zuhause sehnen.
            Und
              noch eine Auswirkung hat dieses gespaltene Erbe: Es gibt enorme individuelle
              Unterschiede, wenn es um die Bedeutung der räumlichen Umgebung für die eigene
              Lebensqualität geht. Manche können sich nicht mal vorstellen, an einem anderen
              Ort zu leben, für andere ist es völlig egal, wo sie das gerade tun. Sollten Sie
              zu dieser zweiten Extremgruppe gehören, können Sie den Rest dieses Kapitels
              getrost vergessen, die räumliche Lebensqualitäts-Sphäre hat dann für Sie
              schlicht keine Bedeutung.
            Bei
              den meisten Menschen können wir allerdings davon ausgehen, dass es ihnen nicht
              gänzlich gleichgültig ist, an welchem Ort sie leben. Und weil dem so ist,
              müssen sie herausfinden, durch Selbstbefragung und/oder durch praktische
              Versuche, welche Art von Ort ihre Lebensqualität am meisten fördert.
            Das
              gilt zunächst für die innerste räumliche Hülle des Menschen, also seine Wohnung
              oder sein Haus, und wie er diesen Raum einrichtet. Für die meisten Menschen ist
              ihr Wohn-Raum mehr als ein Basislager, in das man sich gelegentlich
              zurückzieht, nur um dann gleich wieder nach draußen loszuziehen, wo sich das
              eigentliche Leben abspielt, sondern ihr Lebens-Mittelpunkt. Entsprechend groß
              ist, im guten wie im schlechten, der Einfluss der Wohn-Sphäre auf die
              Lebensqualität.
            Wohnungen
              und Häuser stehen selten allein auf weiter Flur, sie sind vielmehr Teil einer
              Stadt oder eines Dorfes. Und schon haben wir einen weiteren Punkt, an dem sich
              die Geister scheiden – zwischen Stadtmäusen und Landmäusen. Wie nicht nur
              das einschlägige Märchen, sondern auch die Erfahrung zeigt, sinkt die
              Lebensqualität von geborenen und/oder überzeugten Landmäusen in der Stadt
              rapide – und umgekehrt. Glücklicherweise haben immer mehr Menschen die
              Freiheit, sich an einem Ort ihrer Wahl niederzulassen und so etwas für ihre
              Lebensqualität zu tun.
            Dieser
              Ort der Wahl wird einer sein, an dem man sich wohl fühlt, ja, der einem sogar
              Kraft gibt. Das ist nicht zu verwechseln mit dem geomantischen Konzept der
              Kraft-Orte, für die es objektive Kriterien geben soll. Ob ein Ort für uns ein
              Kraft spendender ist, entscheiden wir dagegen ganz allein, so wie der Einfluss
              unseres Wohn-Ortes auf unsere Lebensqualität immer nur subjektiv bestimmt
              werden kann. Seien Sie also vorsichtig, wenn Sie einen der beliebten
              Lebensqualitäts-Vergleiche zwischen verschiedenen Städten sehen. Dort werden
              immer nur objektive, messbare Faktoren erfasst, wie zum Beispiel die Höhe der
              Steuern oder das Sport- und Kulturangebot. Wenn jemand jedoch so wenig Geld
              hat, dass er gar keine Steuern zahlen muss, wird seine Lebensqualität von einem
              hohen Steuersatz nicht beeinträchtigt, so wenig wie ein mangelhaftes Angebot an
              Sport oder Kultur die Lebensqualität von jemandem negativ beeinflusst, der sich
              aus beidem überhaupt nichts macht. 
            Ein
              Spitzenplatz in einem Lebensqualitäts-Ranking ist also keine Garantie dafür,
              dass Ihre persönliche Lebensqualität in dieser Stadt hoch ist. Vor allem dann
              nicht, wenn es Ihnen auf dem Land ohnehin wohler ist. Was für Sie
              Lebensqualität am Wohn-Ort ausmacht, entscheiden Sie allein. In Frage kommt
              einiges: Landschaft und Architektur, Menschenschlag und Sprache, Geschichte und
              Kultur, politisches, gesellschaftliches (und natürlich meteorologisches) Klima
              etc. – alles Phänomene, die wir mit einem ganz bestimmten Ort verbinden.
            Zum
              Glück gibt es diese Unterschiede zwischen den Orten, denn so können wir
              herausfinden, an welchem unsere Lebensqualität am  besten ist. Dafür haben wir ein zu oft verpöntes Gefühl
              – jenes für Heimat. Heimat wird dabei nicht verstanden als Ort
              nostalgischer Kindheits- oder romantischer Jenseits-Sehnsucht, sondern einfach
              als Bewusstsein dafür, dass wir an manchen Orten besser verankert und geerdet
              sind als an anderen. Diese Empfindung, daheim zu sein, kann sehr wohl zu
              unserer Lebensqualität beitragen.
            Problematisch
              wird die Sache mit der Heimat erst, wenn wir anfangen, darum herum materielle
              oder geistige Zäune zu ziehen. Solche verzweifelten Versuche, alles Fremde
              draußen zu halten, leugnen die Realität der zunehmenden Verflechtung und
              Vernetzung bis hin zum globalen Maßstab. Das Eigene der Heimat schützt man
              nicht mit Stacheldraht, sondern durch selbstbewussten Austausch mit anderen
              Heimaten. Wenn wir heute und noch mehr in Zukunft nach einer Verankerung im
              Raum suchen, kommen wir nicht umhin, dabei nicht nur unser engeres Umfeld, sondern
              den ganzen Planeten ins Auge zu fassen. Natürlich sind wir so geboren, dass
              unser Interesse an unserer Umwelt mit zunehmender Distanz abnimmt, und das ist
              auch gut so, denn wenn wir uns gleichermaßen um jeden Ort auf der Welt kümmern
              sollten, wären wir heillos überfordert. Nut gänzlich ignorieren sollten wir
              nicht, dass auch die Verhältnisse weiter weg unsere Lebensqualität beeinflussen
              können.
            Wie
              bereits eingangs erwähnt, hängt unsere Lebensqualität nicht nur davon ab, an
              welchem Ort wir uns niederlassen, sondern auch davon, wie wir uns zwischen
              verschiedenen Orten bewegen können, also von unserer Mobilität. Im historischen
              Vergleich ist die Zunahme der Mobilität zweifellos eine der spektakulärsten
              Entwicklungen. Und eine, die am meisten zu unserer heutigen Lebensqualität
              beiträgt. Falls Sie daran zweifeln, fragen Sie jemanden, der noch hinter dem
              eisernen Vorhang eingesperrt war, wie sehr mangelnde Reisefreiheit die
              Lebensqualität beeinträchtigen kann. 
            Doch
              ob dieses kaum zu übersehenden Zusammenhangs zwischen Mobilität und
              Lebensqualität wird leicht übersehen, dass sich natürlich auch in dieser Sphäre
              das Phänomen des abnehmenden Grenznutzens, ja des Umkippens von Quantität in
              Qualität zeigt. Mit anderen Worten: Es wäre ein Irrtum anzunehmen, dass immer
              noch mehr Mobilität automatisch ein Plus auf dem Lebensqualitäts-Konto erzeugt. 
            Da
              werden millionenschwere Investitionen damit gerechtfertigt, man komme deswegen
              zehn Minuten schneller von A nach B. Nicht erforscht ist leider, wie viele
              Menschen die so gewonnene Zeit tatsächlich wirklich sinnvoll nutzen. Ich
              schätze, allzu viele sind es nicht. Und nur ganz wenige dürften es sein, die in
              dieser Zeit ernsthaft darüber nachdenken, welche der nächsten geplanten Fahrten
              und Reisen wirklich nötig und sinnvoll seien. Schade eigentlich, denn so
              entgeht den gehetzten Mobilitäts-Fans eine wichtige Erkenntnis, die kaum
              woanders so sehr gilt wie in dieser Sphäre: Weniger (Mobilität) kann mehr
              (Lebensqualität) sein...
            Zum
              Thema ist mir gerade noch ein Zitat (von der Stadtforscherin Rebecca Solnit)
              zugefallen: Zu Fuß gehen macht möglich, sich unter Fremden zu Hause zu
                fühlen. Ohne das funktioniert Demokratie nicht. Eine Kultur, die nicht läuft,
                ist bereits eine besiegte Kultur.