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Reizwort Einfachheit / Forts.

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Einfachheit

Wie muss der Erfinder des Prismas gestaunt haben: Die vermeintlich einfachste "Farbe", nämlich weiss, entpuppte sich plötzlich als hoch komplexes Gemisch aus sämtlichen Spektralfarben. Und schon war das vermeintlich Einfache gar nicht mehr so einfach.

Ganz ähnlich erging es mir, als ich kürzlich das Privileg hatte, für eine Zukunftsstudie den "Trend zur neuen Einfachheit" näher untersuchen zu können. Die erste Frage, auf welche die Studie eine Antwort gab, war die, ob es überhaupt einen solchen Trend gäbe: Ja, es gibt ihn in Ansätzen, und er wird weiter wachsen, wenn auch nicht spektakulär.

Zu zweiten galt es, gleichsam eine Anatomie des Trends zu erarbeiten, also herauszufinden, aus welchen Quellen sich der Trend speist und welche Auswirkungen er hat und haben könnte. Dabei zeigte sich: So einfach, dass sie sich in zwei, drei Sätzen abhandeln liesse, ist Einfachheit nicht. Auch wenn sie die wesentlichsten Elemente, die sich in "Einfachheit" zum Reizwort bündeln, durchaus nachvollziehen lassen.

Da wäre zunächst der Auslöser des Trends zur neuen Einfachheit, der die Bezeichnung "neu" rechtfertigt, weil er sich gegenüber den anderen in unserer Geistesgeschichte immer wieder anzutreffenden Bewegungen, welche die Vorteile es einfachen Lebens priesen, deutlich unterscheidet: der Überdruss am Überfluss.

Der Eindruck, wir lebten in einer Überflussgesellschaft, mag in den wirtschaftlich schwierigen Zeiten, in denen diese Zeilen geschrieben werden, kühn erscheinen. Die Sorge, man könnte zu wenig haben, dürfte tatsächlich ausgeprägter sein als jene, man hätte schon zu viel. Doch der Überdruss am Überfluss reicht tiefer: Er wird genährt von der sich allmählich ausbreitenden Einsicht und Erkenntnis, wonach ein Mehr an Konsum und Besitz nicht automatisch mehr Lebensglück bewirkt. Sondern eher das Gegenteil.

Noch dämmert diese Erkenntnis in den vorbewussten Bereichen des kollektiven Bewusstseins, latent vorhanden, aber erst bei einer Minderheit wirklich bewusst geworden. Trotzdem ist sie da und wirkt sich aus. Das gilt noch verstärkt auch für ein wichtiges Fundament des Trends zur neuen Einfachheit: die Einsicht, dass wir zu akzeptieren haben, in einer weitgehend gesättigten Gesellschaft zu leben.

Eigentlich würde es die Lebenserfahrung deutlich lehren: Je höher das erreichte Niveau, desto schwieriger wird es, weiterhin in grossen Schritten voran zu kommen, desto grösser wird die Herausforderung, auch nur das bereits erreichte Niveau zu halten. Die Volkswirtschaft macht da keine Ausnahme, warum sollte sie auch ? Die Versprechen, die von früher gewohnten hohen Zuwachsraten würden sich bald wieder einstellen, erweisen sich deshalb als hohl, zumal eine der stärksten Antriebskräfte weg bricht: die Überzeugung, mehr sei immer besser.

Wenn wir also im Bereich von Konsum und Besitz ein Szenario von Sättigung, das heisst von Stagnation auf hohem Niveau, vorher sagen, dürften wir kaum falsch liegen. Und weil Fakten bekanntlich immer eine starke normative Kraft haben, weil Tatsachen über kurz oder lang entsprechend positive Deutungsmuster produzieren, ist auch abzusehen, dass diese gesättigte Gesellschaft immer mehr auch als Chance akzeptiert wird.

Aus dem Überdruss am Überfluss leitet sich eine erste augenfällige Konsequenz ab, nämlich Vereinfachung durch die Befreiung von allem Überflüssigen. Einengenden Ballast abwerfen, heisst die Devise, aufräumen und ausmisten, Unnötiges und Unnützes streichen.

Das Resultat dieses Befreiungsaktes ist eine mentale Haltung der Konzentration auf das Wesentliche. Diese mentale Haltung wird gespiesen von einem mächtigen und anschwellenden Strom von Werten, die sich in einer einfachen Lebensphilosophie verbinden und bündeln: der Lebensphilosophie des Essenziellen.

Fassen lassen sich diese Werte, die zusammen die Lebensphilosophie des Essenziellen als Basis des Trends zur Einfachheit bilden, ebenfalls in Reizworten:

Da es sich ausnahmslos um Reizworte mit hoher emotionaler Temperatur, also um heisse Reizworte handelt, erwärmen sie zusammen natürlich auch das Reizwort Einfachheit ungemein. Einfachheit ist mehr als die Befreiung von Ballast, sie ist auch schön und wahr und macht Sinn. Deshalb wirkt sie, so mit anderen Werten unterfüttert, zunehmend attraktiv.

Denn dank dieser Verbindungen zu anderen Werten wird klar, dass Einfachheit nicht einfach nur Befreiung von ist, sondern auch Befreiung zu, nämlich zu mehr Lebensqualität. Das Ausmisten ist nicht Selbstzweck, es schafft vielmehr Platz für Wichtigeres. Was aber könnte wichtiger sein als die eigene Lebensqualität ?

Zur eigenen Lebensqualität gehören entgegen anders lautenden, aus einem Missverständnis des Reizwortes "Selbstverwirklichung" resultierenden Gerüchten keineswegs nur egozentrische oder gar egoistische Werte: Lebensqualität hängt nicht nur davon ab, ob es einem selbst gut geht, sondern auch davon, ob es den eigenen Lieben - also dem sozialen Umfeld - gut geht. Freiheit in Eigenverantwortung ist zwar ein zentraler Wert, aber Verantwortung wird dabei durchaus auch als soziale Verantwortung interpretiert.

Diese Menschen, auch "Soft-Individualisten" genannt, wollen sich selbst sein, ohne zu vergessen, dass sie in ein soziales Umfeld eingebettet sind. Sie legen viel Wert auf den Wert Wohlbefinden. Dazu gehört neben Gesundheit im klassischen Sinne auch das Gefühl, sich selbst in einem permanenten Prozess von Reifung unterwegs zu einem Fernziel namens Weisheit zu befinden.

Lebensqualität entsteht dann, und nur dann, wenn all diese Werte - jeweils im richtigen Mass - zu ihrem Recht kommen. Überflüssiger Ballast erschwert diesen Prozess, die Konzentration auf das Wesentliche erleichtert und fördert ihn. Einfachheit wird so zur Voraussetzung von Lebensqualität.

Diese einfache Formel steckt hinter der geheimnisvoll klingenden Aussage "weniger kann mehr sein". Das Geheimnis ist ganz einfach: So lange wir im rein quantitativen Denken stecken bleiben, ist "mehr vom selben" ein erstrebenswertes Ziel. Mehr ist auf jeden Fall besser als weniger. Doch "besser" ist eine qualitative Bewertung. Und Qualität ist keineswegs einfach eine Unterabteilung von Quantität. Viel eher ist das Gegenteil der Fall: Qualität ist das wichtigere Bewertungskriterium. Mehr Quantität kann somit durchaus weniger Qualität bedeuten. Und umgekehrt.

Mehr Lebensqualität wagen kann also auch heissen, auf weniger Quantität zu setzen. Oder eben: Mehr Einfachheit im Sinne der Reduktion auf das Wesentliche zu pflegen.

So weit, so philosophisch. Was aber bedeutet Einfachheit im Sinne konkreter Lebenspraxis ? Dank der erwähnten Studie haben wir die Gelegenheit, auch diese Frage zu beantworten. Basis dafür sind die Auskünfte von SensoNet, einer gesellschaftlichen Vorhut, die schon heute jenes Denken und Verhalten pflegt, das morgen (oder spätestens übermorgen) Allgemeingut sein wird.

Demnach praktizieren fast alle (neun von zehn) den Trend zur neuen Einfachheit zunächst in Form von Ausmisten, von Befreiung von überflüssigem Ballast. Weil das aber nicht viel bringt, wenn sofort wieder neues Gerümpel den Platz des alten einnimmt, zieht die Hälfte eine weiter gehende Konsequenz und reduziert ihre materiellen Ansprüche. Das bedeutet nicht generellen Verzicht oder gar Askese, sondern die Suche nach dem richtigen Mass, die Reduktion auf das Wesentliche.

Neben einem veränderten Umgang mit materiellen Ressourcen spielt im Prozess der Vereinfachung, oder eben hier noch stärker Verwesentlichung des eigenen Lebens auch der bewusste Abbau von Stressfaktoren eine wichtige Rolle. Sechs von zehn praktizieren diese Strategie zur Erhöhung der eigenen Lebensqualität.

Ein wichtiger Stressfaktor ist ein gehetzter Umgang mit der Ressource Zeit. Kein Wunder also, dass eine beachtliche Minderheit (vier von zehn) das pflegt, was sich mit dem Reizwort Entschleunigung zusammen fassen lässt: eine zumindest gelegentliche bewusste Verlangsamung des eigenen Lebenstempos.

Ein Drittel unserer Vorhut schliesslich übt schon heute so etwas wie Konsumverzicht. Keinen vollständigen natürlich, sondern nur einen partiellen. Doch selbst das hat Folgen: In Zukunft wird spürbar weniger Geld, Zeit und Aufmerksamkeit in Konsum investiert werden.

Deshalb werden sich die Kaufhäuser nicht über Nacht lehren. Noch ist die Fraktion der Konsumverzichter selbst innerhalb der Minderheit der gesellschaftlichen Vorhut eine Minderheit. Bis der Trend zur neuen Einfachheit sich deutlich spürbar auf breiter Front ausgebreitet hat, wird noch einige Zeit vergehen. Die Zeichen an der Wand sind dennoch klar: Einfachheit hat Zukunft.

Auch, oder besser gerade weil Einfachheit alles andere als einfach ist. Die kurze tour d´horizon durch die Anatomie eines Trends hat gezeigt, in welch dichtes Geflecht von Entwicklungsströmungen in Wertelandschaften, Welt- und Menschenbildern und Lebensphilosophien ein so einfach klingendes Reizwort wie Einfachheit eingebettet ist - und wie es durch dieses Beziehungsgeflecht energetisch aufgeladen wird.

Sollten Sie all diese komplexen Verflechtungen und Zusammenhänge noch nicht ganz vollständig überblicken und erfasst haben, so können Sie sich trösten: ich auch nicht. Macht aber nichts. Der Evolution sei Dank brauchen wir für ein tieferes Verständnis dessen, was ein Wort wie einfach bedeutet, keine vollständige kognitive Landkarte, das heisst, wir müssen das Ding nicht vollumfänglich rational verstehen.

Wir haben einen voll funktionierenden Ersatz dafür: ein intuitives Verstehen, gleichsam so etwas wie einen Sinn dafür, was einfach ist und was nicht. So wie wir ganz intuitiv ohne Weiteres unterscheiden können, was reif ist und was unreif, ohne Reife exakt definieren zu können, wissen wir auf einer tieferen Ebene ganz genau, was Einfachheit ist, obwohl wir, wie die letzten Seiten zeigen, sofort komplexe Wortkaskaden absondern, wenn wir daraus ein rationales Denkgebäude basteln wollen.

Einfach ist eben doch auch ganz einfach, ist gar nicht so einfach und ganz einfach zugleich. Ein Gedanke, der sich verallgemeinern lässt: Vieles, wenn nicht das meiste in unserem Leben und darüber hinaus ist sowohl hoch komplex als auch ganz einfach, und was davon es gerade ist, ist oft nur eine Frage unserer eigenen Betrachtungsebene.

Weisheit bestünde darin, die für die jeweilige aktuelle Situation passende Betrachtungsweise zu wählen, also nicht dort zum "schrecklichen Vereinfacher" zu werden, wo differenzierte Betrachtung angemessen wäre, und nicht dort unnötig zu verkomplizieren, wo der Bauch ganz einfach sagt, was richtig wäre.