Gigerheimat: Werte

Lebensgestalter / Forts.

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4. Wie wir "Soll" und "Ist" vergleichen:

Projektion als Pinsel

Die Methode, mit der wir die Tauglichkeit des Leitbilds "Lebensgestalter" als Orientierungshilfe auf der individuellen wie der gesellschaftlichen Ebene untersuchen, ist ganz einfach: Wir fragen die Menschen nach Soll-Werten, indem wir sie ein Bild der Lebensgestalter entwickeln lassen, und wir fragen dieselben Menschen nach den Ist-Werten, indem wir sie ein Selbst-Bild malen lassen.

Nun, obwohl solche Soll-Ist-Vergleiche zu unserem täglichen Denkbrot gehören, ist es in unserem Falle nicht ganz so einfach. Vier Punkte sind mindestens diskussionswürdig:

1. Fragen wir die richtigen Menschen ? Ich habe in der Einleitung Zusammensetzung und Philosophie von SensoNet ausführlich beschrieben: SensoNet ist jene Minderheit der Bevölkerung, die sich der gesellschaftlich-kulturellen Evolution, des Wandels, der derzeit stattfindet, am stärksten bewußt ist und ihn deshalb auch beschreiben kann.

Nun könnte man annehmen, welche Antworten dabei rauskämen, hinge extrem davon ab, wen man fragt. Das hieße, Änderungen in der Zusammensetzung von SensoNet müßten sich auf das von SensoNet gezeichnete Zukunftsbild auswirken.

Das ist nicht der Fall. Man kann das ganze Netz in einzelne Teilgruppen zerstückeln, so viel man will - die Bilder, die beim jeweiligen Teil herauskommen, sind immer noch dieselben wie das Gesamtbild - von leichten statistischen Unschärfen natürlich abgesehen.

Ein einfaches Beispiel soll Ihnen zeigen, was ich meine. Sie erinnern sich vielleicht an die Frage im Einleitungskapitel, wie sehr man sich mit dem Begriff der Lebensgestalter identifizieren könne - gestern, heute und morgen (siehe Seite 13). Die dabei errechneten Mittelwerte stammen aus der SensoNet-Befragungswelle 1/98, an der sich insgesamt 240 SensoNet-Mitglieder beteiligt hatten.

Für die Welle 2/98, aus der die meisten der hier vorgestellten Daten stammen, haben wir SensoNet kräftig aufgestockt. Diesmal haben fast 360 Menschen die Fragen beantwortet, also 50% mehr als bei der zitierten Frage. Rechnet man mit den üblichen sonstigen Fluktuationen, können wir davon ausgehen, daß etwa 40% derjenigen, die jetzt geantwortet haben, bei der letzten Welle nicht dabei waren.

Trotzdem ergibt sich bei einer Vergleichsfrage ein fast identisches Bild. Wir haben nämlich die Frage nach der Identifikation mit dem Begriff Lebensgestalter gestern heute und morgen noch einmal gestellt, wenn auch in etwas veränderter Form und in anderem Zusammenhang. Beides könnte die Antworten theoretisch noch weiter verändern.

Faktisch sind die beiden Bilder fast identisch. In der aktuellen Befragung, die wir hier vorstellen, lauteten die Mittelwerte auf einer Skala von 1 bis 10 für "vor zehn Jahren" 4.7, in der Welle davor mit der anderen SensoNet-Zusammensetzung 5.0.

Für "heute" ergibt sich jetzt eine 6.6 gegenüber einer 6.4 die Welle davor. Und in zehn Jahren sieht man den Wert bei 7.6 (Vergleichswert 7.0). Die Unterschiede sind tatsächlich nicht mehr als statistische Unschärfen, die Bildaussage bleibt stabil.

Das Ganze funktioniert also etwa wie ein Hologramm. bei dem auch die gesamte wesentliche Bildinformation in Bruchstücken des Bildträgers steckt, wobei die Bilder mit abnehmender Größe der Bruchstücke unschärfer werden.

Wenn ich hier einen Satz formuliere wie "das Ganze funktioniert...", dann bedeutet das keineswegs, daß ich vollständig verstünde, was da abgeht. Die klassischen Sozialwissenschaften haben sich mit diesem Phänomen bisher schlicht nicht beschäftigt und deshalb auch keine Erklärungsmodelle anzubieten. Das geht in der Medizin vielen Methoden, etwa der Homöopathie, auch nicht besser - und dennoch funktionieren sie. Worauf es schließlich ankommt.

Fazit: Wir bekommen von SensoNet ein gutes Bild davon, was unsere Gesellschaft in der gegenwärtigen Wandels-Phase umtreibt.

2. Ist "Lebensgestalter" überhaupt ein Leitwert ? Nun, die eben genannten Zahlen zeigen eines: "Lebensgestalter" ist ein identifikationsfähiger Begriff, dessen Tendenz klar nach oben weist.

Das bedeutet natürlich keine vollständige Identifikation - dann wäre es ja ein Idealbild, dessen Existenz wir eben schon als höchst unwahrscheinlich beschrieben haben. Doch die Identifikation ist auch heute schon beeindruckend: Auf der Skala von 1 (keinerlei Identifikation) bis 10 (vollständige Identifikation) wählen zwei Drittel von SensoNet einen Wert von 6 und mehr - das heißt, sie identifizieren sich mehrheitlich mit dem Begriff. Fast die Hälfte (43%) wählt sogar einen Skalenwert zwischen 8 und 10 und identifiziert sich damit weitgehend. Und nur gerade 12% wählen einen Wert von 3 und tiefer, können sich also kaum mit dem Leitbild "Lebensgestalter" identifizieren.

Dazu kommt wie erwähnt, daß man sich heute viel stärker identifizieren kann als vor zehn Jahren (der Mittelwert steigt immerhin um fast zwei Punkte von 4.7 auf 6.6) - und mit dem man sich in zehn Jahren noch deutlich stärker identifizieren wird (der Mittelwert steigt von 6.6 auf 7.6).

Nun wurde diese Frage wie erwähnt in einen größeren Zusammenhang eingebettet. Hier die vollständige Fragestellung samt Antworten:

 

Unterwegs zur Lebensgestalter-Identität ?

Natürlich ist diese grobe Einteilung weder vollständig noch widerspruchsfrei, doch bitten wir Sie, sich der Einfachheit halber für einen Moment mit diesen drei Typen zu begnügen:

 

Lebensverwalter (Lebens-Beamte)

- betrachten das Leben als Bündel von Vorschriften

- Ziele und Wege sind fremddefiniert

- Sicherheit ist dominanter Wert

 

Lebensmanager (Selbst-Manager)

- betrachten das Leben als gewinnorientiertes Unternehmen

- Ziele sind fremddefiniert, über Wege wird selbst entschieden

- Erfolg ist dominanter Wert

 

Lebensgestalter (Lebens-Unternehmer)

- betrachten das Leben als lebendigen Organismus

- Ziele und Wege sind selbstbestimmt

- Freiheit in Eigenverantwortung ist dominanter Wert

 

Wie stark können Sie sich selber mit jedem der drei Typen identifizieren - vor zehn Jahren, heute und in zehn Jahren ? Bitte geben Sie das mit einem Punktwert zwischen 1 (= nicht im geringsten) bis 10 (=vollständig) an, wobei die drei Werte zusammen keineswegs zehn ergeben müssen.

Mit diesen Typen identifiziere ich mich

Vor 10 Jahren

Heute

In 10 Jahren

Lebensverwalter

 4.4

 3.1

 2.8

Lebensmanager

 4.0

 4.7

 4.4

Lebensgestalter

 5.0

 6.8

 7.9

Und wenn Sie jetzt an unsere deutschsprachige Gesellschaft als Ganzes denken: Wie sehr identifiziert sie sich mit den drei Typen ?

Mit diesen Typen identifiziert sich die deutschsprachige Gesellschaft als Ganzes:

Vor 10 Jahren

Heute

In zehn Jahren

Lebensverwalter

 6.6

 6.0

 5.2

Lebensmanager

 4.9

 6.2

 6.3

Lebensgestalter

 3.8

 4.8

 5.9

Wenn diese Gesellschaft sich ganz nach Ihren persönlichen Wünschen formen ließe, welche Identifikations-Werte mit den drei Typen würden Sie ihr dann verordnen, heute und in zehn Jahren ?

Mit diesen Typen sollte sich die deutschsprachige Bevölkerung identifizieren:

heute

In zehn Jahren

Lebensverwalter

 3.8

 3.3

Lebensmanager

 5.1

 5.2

Lebensgestalter

 7.3

 8.3

Abbildung 1

 

Die Abbildung zeigt klar: Unsere Gesellschaft sollte sich nach der Meinung von SensoNet klar am Leitbild der Lebensgestalter ausrichten. Offen bleibt allerdings, ob das wirklich der ausdrückliche Wunsch der gefragten Menschen ist oder ob man diese Orientierung als schlichte Überlebensnotwendigkeit in einer globalisierten Wirtschaft betrachtet.

3. Kann man ein Phantombild beschreiben ? Wer oder was Lebensgestalter im neuen, flexiblen Sinn wirklich sind, kann heute natürlich niemand mit Gewißheit sagen. Einige Elemente, es sind vor allem die klassischen, mögen einigermaßen klar sein, doch in vielem muß das Bild zwangsläufig noch verschwommen wirken. Genau darum eignet es sich hervorragend als Projektionsfläche. Mit dem Pinsel der Projektion werden eigene Wünsche und Ideale in das Leitbild "Lebensgestalter" gemalt, aber ebenso Ängste und Befürchtungen.

Solche projektiven Leitbilder zeichnen also nicht so sehr die reale zukünftige Entwicklung, sondern den aktuellen Stand der Vorausschau. Sie sind damit weniger ein Instrument der Prognose als vielmehr eines der Diagnose.

Noch etwas: SensoNet zeichnet sicherlich gültige Zukunftsbilder, aber es hat darauf kein Monopol. Das wirklich Entscheidende sind die Fragen. Wir schlagen deshalb vor, daß sie jeweils zuerst die Fragen lesen und sich dann fragen, wie Sie geantwortet hätten, ehe Sie nachgucken, was SensoNet darauf geantwortet hat.

4. Was bringt der Soll-Ist-Vergleich ? Besteht nicht immer die Gefahr, daß man beim Selbstbild auch idealisiert ? Sicher, ganz auszuschließen ist das nie. Würde es aber im befürchteten Ausmaß so laufen, dann gäbe es in unserer Studie keine Unterschiede mehr zwischen Soll (Leitbild Lebensgestalter) und Ist (Selbstbild). Es gibt aber solche Unterschiede, und zwar teilweise sehr deutliche. Und genau diese Abweichungen werden uns eine Menge über den Unterschied von Soll und Ist und damit auch über die Tauglichkeit des Leitbilds Lebensgestalter lehren.

Weil auch hier eine praktische Demonstration nützlicher sein dürfte als lange theoretische Ausführungen, hier ein erstes Beispiel:

Stau-Simulationen...

Etwas anderes: Wenn Lebensgestalter beim Autofahren in einen Stau geraten: Wie reagieren sie da wohl ? Und Sie ?

 

fluchen auf das .....loch am Anfang des Staus

 

12%

 

7%

 

schimpfen über ein ungnädiges Schicksal

 

10%

 

7%

 

Gelassenheit: Gegen Chaos kämpfen Götter selbst vergebens...

 

63%

 

36%

 

nehmen Stau als willkommenen Anlaß für eine schöpferische Pause

 

12%

 

42%

 linker Wert: Selbstbild

 rechter Wert. Lebengestalter

Abbildung 2

Die Frage zeigt durchaus beide Tendenzen: Eine gewisse Beschönigung im Selbstbild darf vermutet werden, wenn drei Viertel von SensoNet behaupten, sie würden in einem Stau völlig cool reagieren - der Augenschein auf den Straßen belegt dieses Bild nicht unbedingt. Entscheidend aber ist etwas anderes, nämlich die Vorstellung, Lebensgestalter würden noch viel cooler reagieren als man selbst.

Nun habe ich persönlich auch schon im Stau kreative Ideen gehabt, aber dieses coole Ausnutzen jeder Gelegenheit als Normalfall zu betrachten, grenzt schon stark an eine illusorische, oder eben idealisierende Betrachtung.

Womit wir schon einen ersten inhaltlichen Hinweis haben: Lebensgestalter scheinen in der Tat stark dem Idealbild des coolen Superman bzw. der coolen Superwoman zu gleichen.

 

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