Gigerheimat: Worte
Das Hofnarr-Prinzip

Das Hofnarr-Prinzip – der Ausweg aus der Wahrnehmungs-Krise

Nie werde ich den Gesichtsausdruck eines ehemaligen Vorstandsmitglieds der deutschen Post vergessen, als ich eine seiner Bemerkungen im lockeren Gespräch ganz spontan mit dem zugegebenermaßen nicht sehr feinen Kommentar »Quatsch!« versah. Bass erstaunt war er, denn das war er sich nun wirklich nicht gewohnt: Dass jemand frei von äußeren und inneren Zensurbedenken seine Sicht der Dinge äußert.

Manager lesen üblicherweise keine Märchen. Das ist sehr bedauerlich, denn so entgehen ihnen wunderschöne Gleichnisse. Wie jenes vom nackten Kaiser. Der war auf einen Betrüger reingefallen, der ihm eine tolle neue Garderobe versprochen hatte, die in Wirklichkeit allerdings buchstäblich aus Nichts bestand. Als der Kaiser dem staunenden Volk voll Stolz seine Garderobe vorführte, wirkte eine ungeheure kollektive Hypnose: Weil der Kaiser einfach prächtige Gewänder tragen musste, sah das Volk auch welche. Nur ein kleines Mädchen sah, was wirklich war, und rief: Aber der Kaiser ist doch nackt!

Wen das nicht glasklar und fatal zugleich an die Finanzkrise erinnert, der steckt in einer beträchtlichen Wahrnehmungs-Krise. Und tatsächlich ist die Finanzkrise ja ganz wesentlich eine Wahrnehmungs-Krise. (Fast) alle Akteure litten unter der kollektiven Hypnose, die ihre Wahrnehmung nicht nur zu einem durch Gier verengten Tunnelblick reduzierte, sondern ihnen auch vorgaukelte, die versprochenen Gewinnaussichten seien bereits Realität geworden.

Natürlich gab es vereinzelt auch die kleinen Mädchen, die darauf verwiesen, dass das alles nicht funktionieren könne, jedenfalls nicht in einer längerfristigen, also nachhaltigen Perspektive, weil das System zu groß und zu komplex geworden sei und auf morschen Grundlagen beruhe. Nur hören wollte (oder konnte?) sie keiner der Verantwortlichen. Warum eigentlich?

Weil ein einst blühender Denkstil zur Bekämpfung der Wahrnehmungs-Krise längst abgeschafft ist: das Hofnarr-Prinzip. Das ging so, dass in den Herrscherhäusern früherer Zeiten nur eine einzige Person es wagen durfte, ungestraft der vorherrschenden, sprich durch den Herrscher vorgegebenen, Meinung zu widersprechen und eine andere Sicht der Dinge einzubringen, und das war der Hofnarr. Dieser hatte also das Recht, ja geradezu die Pflicht, die Rolle des kleinen Mädchens einzunehmen und darauf hinzuweisen, bei des Kaisers neuen Kleidern handle es sich leider um eine illusionäre Fälschung. „Kinder und Narren sagen die Wahrheit“, weiß der Volksmund, wobei vom Narren schon verlangt wurde, dass er die Wahrheit nicht nackt und brutal ausspräche, sondern möglichst niedlich und possierlich.

Immerhin, als Korrektur gegen Tunnelblicke und daraus resultierende Wahrnehmungs-Krisen funktionierte das Hofnarr-Prinzip. Und so stellt sich schon die Frage, ob es nicht Sinn machen würde, an dieser Tradition anzuknüpfen und bei den heutigen Herrschern in Politik und Wirtschaft wieder die Rolle des Hofnarren zu installieren. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wohin die Wahrnehmungs-Krise geführt hat, ist die Frage bereis beantwortet. Und führt gleich zur nächsten: Warum ist das nicht längst geschehen?

An der Angebotsseite kann es kaum liegen. Freie und unabhängige Geister, die unbeeinflusst von Ideologien und Management- oder Beratungs-Moden einen Blick jenseits von Betriebsblindheit dafür haben, worum es geht, und die Realitäten komplex wahrnehmen und einfach formulieren können, gäbe es durchaus noch vereinzelt, man müsste nur ein klein wenig suchen – bevorzugt übrigens bei den reiferen Jahrgängen...

Es fehlt offenbar an der Nachfrage, oder, anders gesagt, an der Bereitschaft, etwas in die Erschließung einer Ressource zu investieren, die leider mit wachsender Unternehmensgröße immer seltener wird: gesunder Menschenverstand. Wobei das Investment in die Dienstleistungen heutiger Hofnarren, die ja nicht mehr unbedingt mit Glöckchen und Schellen und Narrenkappe auftreten müssten, den kleinsten Teil ausmacht. Gewichtiger sind die Investitionen, die nötig sind, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass dem Hofnarren auch wirklich zugehört wird. Dazu müssten nämlich für alle relevanten Gremien ritualisiert eigentliche Zeit-Inseln im Meer des Alltagsgeschäfts geschaffen werden, auf denen ohne Störungen nachhaltig über Grundsätzliches nach- und vorgedacht werden kann.

Natürlich war jedem Hofnarren klar, dass er seinem Herrscher bestenfalls eine Chance bieten konnte, sein Wahrnehmungs-Spektrum zu erweitern und damit zu klügeren und nachhaltigeren Entscheidungen zu gelangen. Diese Chance nutzen musste der Herrscher dann schon selber. Was vermutlich nicht allzu oft vorkam. Woran sich bis heute nichts geändert haben dürfte.

Immerhin, die Chance, mit Hilfe des Hofnarr-Prinzips einen Ausweg aus der Wahrnehmungs-Krise zu finden, existiert, und es wäre fahrlässig, sie nicht zu nutzen. So groß ist der Aufwand dafür nun auch wieder nicht, und als Ertrag winkt eine intelligentere, reifere, ja vielleicht sogar weisere Organisation. Nur anfangen muss man, gemäß dem frei abgewandelten Motto: Wer früh genug kommt, den belohnt die Zukunft...

22.12.208 by Dr. Andreas Giger

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