Gigerheimat: Worte
Interviews

 

Aus HR-TODAY, dem Schweizer Human Resource Management-Journal, Ausgabe Dezember 2003.

Nachdenken über die Zukunft ist nicht konkjunkturabhängig

Porträt: Der Mensch denkt beim Gehen. Er heisst Andreas Giger, und das Revier für seine philosophischen Märsche ist das Appenzellerland rund um Wald AR. Sein Thema ist die Gesellschaft auf dem Weg in die Zukunft.

(Text: Peter Stöckling, Fotos: Simone Gloor)

Wenn heute von Zukunft gesprochen wird, stehen Stichworte wie "Überalterung" und "demografische Falle" im Vordergrund. Der Zukunfts-Philosoph Andreas Giger macht bei dieser Schwarzmalerei nicht mit. Er zeigt auf, welche Chancen sich dadurch bieten.

Sie bezeichnen sich als Zukunfts-Philosoph, Herr Giger. Wollen Sie sich damit gegenüber den zeitgeistigen Trend- und Zukunftsforschern abgrenzen?

Andreas Giger: Ja, aber nicht einfach mit einem andern Namen — obwohl dieser eine Eigenschöpfung ist...

Entscheidend ist natürlich die inhaltliche Positionierung. Da soll der Begriff "Philosoph" zum Ausdruck bringen, dass ich meine Arbeiten längerfristig und auch etwas tiefgründiger sehe als das, was heute unter Zukunfts- und vor allem Trendforschung herumgeboten wird.

Ist der "Philosoph" denn mehr wert als der "Forscher"?

Andreas Giger: Absolut nicht. Nur ist es nach meinem Verständnis ein Widersinn, etwas zu "erforschen", dass es noch gar nicht gibt — eben die Zukunft.

Ob Forschung oder Philosophie: Die Erfolgsbilanz der Zukunftsprognosen aus Ihrer Branche ist nicht gerade überwältigend...

Andreas Giger: Was die Prognosen betrifft, würde ich sogar noch einen Schritt weiter gehen: Zukunftsforschung ist eine Geschichte der Fehlprognosen. So hat Ende des 19. Jahrhunderts in London jemand vorausgesagt, dass die Strassen in einigen Jahren unpassierbar sein würden — wegen der Masse der Pferdeäpfel, die der zunehmende Fuhrwerkverkehr verursache. Das mag ein besonders skurriles Beispiel sein. Aber auch den euphorischen Wachstumsprognosen Ende der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts ist es nicht viel besser ergangen.

Heisst das, dass wir am besten die Hände von der Zukunft lassen und sie einfach geschehen lassen?

Andreas Giger: Das wäre nicht nur falsch, sondern auch fahrlässig und verantwortungslos. Was ich mit dem Beispiel der Fehlprognosen zeigen will: Das "Vorhersagen" darf bei der Beschäftigung mit der Zukunft nicht im Vordergrund stehen. Und hier kommt erneut die Philosophie ins Spiel. Sie hat — wiederum: so wie ich es verstehe — die Aufgabe, Alternativen zu einer einzig möglichen Entwicklung aufzuzeigen. In diesem Sinn geht es bei meiner Arbeit eigentlich um denkbare "Zukünfte". Und es geht darum dass wir — die ganze Gesellschaft — abschätzen können, was auf uns zukommt und wie viel Spielraum wir überhaupt haben.

Wenn ich die aktuelle Diskussion über die drohende Überalterung der Gesellschaft betrachte, habe ich nicht den Eindruck, dass wir besonders gut darauf vorbereitet wären.

Andreas Giger: Das ist richtig. Es hat aber sehr wohl schon vor Jahren Experten gegeben, die in wissenschaftlichen Publikationen auf diese Entwicklung aufmerksam gemacht haben. Nur: Sie wurden kaum zur Kenntnis genommen, die Medien und auch die Politik haben das Thema nicht aufgegriffen. Bei den Diskussionen um den berühmten"´Pillenknick" standen ganz andere Dinge im Vordergrund.

Heute nun hat das Pendel auf die andere Seite ausgeschlagen: Die Gefahren der älter werden Gesellschaft werden geradezu dämonisiert.

Was können Sie dagegen unternehmen?

Andreas Giger: Ich versuche, die Aktualität zu nutzen und gleichzeitig andere, differenziertere Argumente ins Spiel zu bringen. Ein Mittel dafür ist zum Beispiel das Internet, ganz konkret die Plattform www.reife.ch - die Plattform für eine neue Sicht des älter Werdens. Hier sagt allein schon der Name, dass es sehr wohl auch positive Aspekte gibt — wenn wir den Spielraum nutzen! Wenn ich daran denke, dass in Deutschland rund 60 Prozent der Unternehmen keine Leute über 50 einstellen, ist das ein Verzicht auf Know-how und Ressourcen, den wir uns kaum leisten können, auch wenn sich die Verhältnisse bei uns in der Schweiz etwas weniger krass präsentieren.

Bevor wir uns ins Thema vertiefen, noch eine persönliche Frage: Wie sind Sie, Herr Giger, überhaupt auf die Zukunft gekommen?

Andreas Giger: Angefangen hat das eigentlich mit der Vergangenheit, dem Studium der Geschichte. Später habe ich Publizistik und Soziologie - also die Gegenwart - zum Schwerpunkt gemacht. Der nächste Schritt war dann die Arbeit in der Marktforschung, und nach einem Zwischenspiel in der New Age-Bewegung erhielt ich vor etwa 15 Jahren die ersten Aufträge von Unternehmen, die ihre Zukunft nicht ungeplant, sondern mit einer Vision angehen wollten.

Diese Arbeiten waren — und sind — für den internen Gebrauch bestimmt. Dabei erarbeitete ich mir aber viele Informationen, die über das Unternehmen hinaus gültig sind, und so gründete ich vor sieben Jahren das Netzwerk SensoNet. Daran können sich alle Leute beteiligen, die sich mit der Zukunft befassen. Wir führen keine repräsentativen Umfragen im Sinne der Marktforschung durch, sondern veröffentlichen die Ansichten einer interessierten Vorhut.

Sie nutzen moderne Medien, wohnen und arbeiten aber gleichzeitig im Appenzellerland, genauer in einer Wohnung am Dorfrand von Wald AR, in einer prachtvollen Landschaft — ihre Wohnung gehört zu einem Ausflugsrestaurant. Praktizieren Sie damit selber ein Stück Zukunft?

Andreas Giger: Zu einem Teil sicher, denn ein Mensch, der sich mit Zukunft beschäftigt, sollte ja ein Stück weit auch das leben, worüber er sich Gedanken macht. Das gilt für meine ganze Arbeits- und Lebensweise: Ich betreibe eine Ich-AG, und zwar schon lange, bevor es den Ausdruck überhaupt gab. Ich bin Portfolioworker mit verschiedenen Auftraggebern, und ich lebe auch seit vielen Jahren eine Beziehung auf Distanz. Im urbanen Umfeld von München hole ich mir jeweils die Anregungen, die ich dann hier verarbeite.

Ihre Wohnung hat aber gar nichts von einem Hightech-Arbeitsplatz...

Andreas Giger: Das ist auch gar nicht nötig. Selbstverständlich brauche ich den PC, aber ich komme ohne Labtop aus. Vieles von dem, was ich dann veröffentliche oder vortrage, entsteht auf langen Spaziergängen — ganz nach dem Motto: Traue keinem Gedanken, den Du nicht im Gehen gefunden und geprüft hast.

Dann sehen die Leute hier oft einen Mann, der zügig über die Felder schreitet, dann plötzlich inne hält und etwas in sein Notizbuch kritzelt?

Andreas Giger: Mein Notizbuch ist das Gehirn. Ich habe zum Glück die Veranlagung oder das Talent, dass ich xxx Gedanken nicht nur sehr gut behalten, sondern sie auch ohne Visualisierung strukturieren kann.

Können Sie sich vorstellen, dass der Lebens- und Arbeitsstil des Zukunfts-Philosophen Andreas Giger ein Modell der Zukunft ist?

Andreas Giger: Wenn schon: eines der möglichen Modelle! Dabei ist mir klar, dass es in dieser ausgeprägten Form wohl ein Minderheitenprogramm bleiben wird. Es gibt Organisationen wie zum Beispiel die SBB, die gar nicht als eine Summe von Ich-AGs geführt werden können. Bei Unternehmen, die Information oder Wissen ("Software") produzieren, oder bei Dienstleistern allgemein wäre da aber noch viel Spielraum.

Halten Sie die Selbständigkeit, die zur Zeit ja recht hoch im Kurs steht, für ein zukunftsträchtiges Konzept?

Andreas Giger: Der Drang nach Freiheit, der hier ja eine wichtige Rolle spielt, ist bei den Menschen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Mein Vater zum Beispiel war Chauffeur bei einer Bierbrauerei. Dann bekam er einen Posten in der Abfüllerei, der wesentlich weniger streng war. Trotzdem wollte er wieder fahren: Für ihn war xxx, obwohl er so oder so Angestellter war, damit eben ein Stück Freiheit verbunden. Ich selber bin nur sehr kurze Zeit angestellt gewesen. Ich arbeite outputorientiert und will nicht nur meine Stunden absitzen. Zudem bin ich so viel leistungsfähiger. Anderseits kenne ich auch Leute, die ganz klar sagen: Das könnte ich nicht, dafür hätte ich nie genug Disziplin. Das heisst: Es gibt auch hier kein Rezept. Je grösser die Auswahl an Möglichkeiten ist, desto besser kann der oder die Einzelne die ihm zusagende Arbeitsform finden.

Gibt es nicht heute — neben den Leuten, die wie Sie aus freiem Entschluss unabhängig bleiben wollen — immer mehr auch "unfreiwillig Selbständige"?

Andreas Giger: Kürzlich habe ich einen Manager getroffen, der in dieser Situation ist und der von sich sagte, er sei jetzt "Taglöhner". So kehrt eine Arbeitsform wieder zurück, die in der Sozialgeschichte keinen sehr guten Ruf hat. Wenn wir einen Manager auch nicht einfach mit dem "klassischen" Taglöhner vergleichen können — etwas haben sie doch gemeinsam: Die Unsicherheit. Und das ist wohl einer der Faktoren, mit denen wir rechnen müssen: Mit der fast totalen Sicherheit, an die wir uns gewöhnt haben, ist es vorbei.

Sehen Sie Gründe für diese Entwicklung?

Andreas Giger: Zum einen liegt es sicher daran, dass grosse Organisationen sehr viel Energie für sich selber brauchen, und das können sie sich beim heutigen raschen Wandel immer weniger leisten. Zudem erleben wir so etwas wie einen Mentalitätswandel, sozusagen vom japanischen zum amerikanischen Modell — das übrigens nicht nur in Europa, sondern auch in Japan selber an Boden gewinnt. Ein prägendes Element ist, dass immer kurzfristiger geplant und entschieden wird. Das ist eine Tendenz, die ich für sehr problematischxx halte, denn es gibt Untersuchungen, die klar zeigen, dass längerfristig ausgerichtete Unternehmen die besseren Chancen haben.

Dieses kurzfristige Wirtschaften bringt nicht nur Unsicherheit, sondern auch einen Verlust an Identität. Liegt hier nicht ein grosser Widerspruch?

Andreas Giger: Und auch ein grosses Konfliktpotenzial. Einerseits müssen die Vorgesetzten den Leuten das Gefühl geben, dass sie geschätzt werden und dass das "menschliche Kapital", wie es so schön heisst, für die Unternehmen ein wichtiger Wert ist. Anderseits können die gleichen Vorgesetzten keine Sicherheit mehr bieten.

Und die Human Ressources-Manager sitzen mitten drin…

Andreas Giger: Mit dem Begriff HR-Management habe ich als Philosoph Mühe: Beziehungen zwischen Menschen kann man nicht managen! Der Naturwissenschafter und Philosoph Fritjof Capra gibt eine Erklärung, warum wir immer noch glauben, alles "managen" zu können: Die meisten Manager verstehen ihre Unternehmen nach wir vor als Maschinen, als Uhrwerke. Diese Vorstellungen stammen aus der Mechanik, und wer so denkt hat den Sprung zur Biologie, zum lebendigen System oder Organismus, nicht geschafft. Zu dieser mechanistischen Vorstellung gehört auch das Bild vom Einzelnen, der ein Rädchen ist im grossen Getriebe.

Aber erfüllt nicht jedes Rädchen da seine Funktion?

Andreas Giger: Damit sprechen Sie die positive Geschichte an, die hinter solchen Bildern auch steht. Heute ist es jedoch so, dass das Rädchen jederzeit durch einen Roboter ersetzt werden kann. Und die "Rädchen" wissen das auch!

Wie würden sie denn das Bild vom Räderwerk ersetzen?

Andreas Giger: Das geht nach 150 Jahren Industriegeschichte nicht einfach so — der Wechselx von der Mechanik zur Biologie ist erst im Anlaufen. Er hat sehr viel auch mit den Diskussionen über Unternehmenskultur zu tun. Für mich gibt es ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal: Die Rädchen sind zwar nicht alle gleich gross und auch nicht alle gleich wichtig — aber sie sind doch alle irgendwie gleich. Bei der Biologie dagegen steht die Unverwechselbarkeit des Einzelnen — wie etwa beim Fingerabdruck — im Vordergrund.

Und was bedeutet das für die Zukunft der Arbeitswelt?

Andreas Giger: Die eine einheitliche Arbeitswelt wird es immer weniger geben, und stattdessen sehr unterschiedliche individuelle Laufbahnen und Arbeitsbiografien. Diese werden weniger linear verlaufen, mehr verschiedene Phasen aufweisen und auch mehr Abwechslung bringen. Vom Modell Portfolioworker haben wir ja bereits gesprochen: Wer für verschiedene Auftraggeber und in mehreren Netzwerken arbeitet, wird mehr gefordert, erlebt mehr — und gewinnt auch wieder mehr Sicherheit.

Läuft die gegenwärtige Konjunktur solchen Tendenzen nicht eher entgegen?

Andreas Giger: Höchstens kurzfristig. Das Denken ist aber nicht konjunkturabhängig, und die Konjunktur soll uns nicht daran hindern, neue Ideen und Gedanken unter die Leute zu bringen!


Zur Person

Andreas Giger

Hat nach seinem Studium der Sozialwissenschaften, das er summa cum laude abschloss, als Sozialwissenschaftler, Politiker, Journalist, Magazinherausgeber, Lektor, Unternehmensberater, Management Trainer und Ghostwriter gearbeitet, zahlreiche Bücher geschrieben und auch Webauftritte konzipiert. Eines seiner Bücher, das 1992 erschienene Werk über Visionen, gibt seine Lebensauffassung wieder: "Alles mögliche war einmal unmöglich".

Mit Unterstützung von SensoNet (einem neuartigen Instrument der Zukunftsforschung) berät Giger namhafte Unternehmen in Deutschland und der Schweiz bei der langfristigen Planung und Visions-Entwicklung in den Bereichen Marketing und Kommunikation.

Das Multitalent mit Jahrgang 1951 lebt als Zukunfts-Philosoph in Wald im Appenzellerland. Sein jüngstes Projekt befasst sich mit seiner Wahlheimat: "A. ist überall" wird 2004 erscheinen. Das Büchlein enthält Giger-Texte zu Giger-Fotos, die sich auf überraschende und hintergründige Weise mit dem Appenzellerland befassen.

Auf dem Internet ist Andreas Giger unter verschiedenen Adressen vertreten:

www.gigerheimat.ch, www.reife.ch, oder www.sensonet.org. Und per E-Mail über gigerand@bluewin.ch


 

 

 

 

 

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