Der Sinn der Schweiz 
            liegt im EigenSinn
          Weder die Igel-Retrovision der SVP noch das 
            Marketing-Etikett Swissness sind geeignete Selbstbilder einer Schweiz 
            mit Zukunft. Gefragt ist individueller statt uniformer EigenSinn.
          
          Eines steht fest: Die SVP ist die unschweizerischste 
            aller Schweizer Parteien. Das liegt nicht am Schweiz-Bild, das sie 
            propagiert. Schliesslich steht es in einem freien Land jedermann frei, 
            sich für eine rückwärtsgewandte Utopie einzusetzen, 
            die das eigene Land als leuchtenden Sonderfall sieht und den Rest 
            der Welt als lästiges, ja bedrohliches Übel. Dass einem 
            dieses Bild der Schweiz ziemlich übel aufstossen kann, wie etwa 
            Jean-Martin Büttner auf diesen Seiten (TagesAnzeiger vom 24.Januar), 
            ist zwar verständlich, für sich allein genommen aber noch 
            kein Grund zur Klage.
          Nein, was wirklich zunehmend nervt, ist der Drang 
            der SVP, ihr einseitiges Bild dem ganzen Land überzustülpen. 
            Wohl wissend, dass ihre Sicht der Welt und der Schweiz von einer Mehrheit 
            der Bevölkerung dieses Landes nicht geteilt wird, tut sie ständig 
            so, als spräche sie im Namen des (ganzen) Volkes und der (ganzen) 
            Schweiz. Das trägt einem dann von ausländischen Freuden, 
            die das Schäfchen-Plakat gesehen haben, die besorgte Frage ein, 
            was eigentlich mit der Schweiz los sei...
          Alter Ideologie-Glaube
          Der Versuch, mit einer partiellen Sicht der Dinge, 
            sprich mit einer Ideologie, die Deutungshoheit über ein ganzes 
            Volk zu gewinnen, erinnert fatal an all die kollektivistischen Experimente 
            des 20. Jahrhunderts, von den Nazis über Stalin bis zu den Roten 
            Khmer, die mit ihren furchtbaren Folgen die Menschheit eigentlich 
            ein für allemal hätten lehren sollen, dass Ideologien des 
            Teufels sind. 
          Das wusste man in der Schweiz an sich schon immer. 
            Doch auch ein niedlich Gräser mampfender Parteivorsitzender kann 
            nicht darüber hinweg täuschen, dass das Schweiz-Bild der 
            SVP eine Ideologie ist, also ein ziemlich beschränkter Ausschnitt 
            der Wirklichkeit. Dass so viele  ganz entgegen der schweizerischen 
            Tradition  dieser Ideologie nachlaufen, kann eigentlich nur 
            bedeuten, dass ansonsten ein ziemlich eklatanter Mangel an Sinn stiftenden 
            Entwürfen und Bildern der Schweiz besteht.
          Das modische Etikett Swissness bildet, auch da 
            hat Jean-Martin Büttner Recht, keine überzeugende Alternative, 
            denn diese Begeisterung für Schweizer Symbole bleibt, wie jedes 
            modische Phänomen, zwangsläufig auf die Oberfläche, 
            den äusseren Schein, beschränkt, und Oberflächen haben 
            nun mal nur ein beschränktes Sinn stiftendes Potenzial. Ob man 
            Swissness deswegen miesepetrisch bekritteln muss, oder ob man diese 
            Zeitgeist-Erscheinung gelassen oder gar mit Freude betrachten will, 
            ist allerdings eher eine Frage des persönlichen Geschmacks als 
            eine grundsätzliche.
          Generell oder individuell?
          Womit wir aber tatsächlich bei einer grundsätzlichen 
            Frage wären, nämlich jener nach den Kriterien, die ein wirklich 
            zukunftstaugliches Bild der Schweiz erfüllen müsste. Die 
            meisten Beiträge zum Thema gehen gänzlich unhinterfragt 
            davon aus, dass ein solches Schweiz-Bild auf Gemeinsamkeiten aufgebaut 
            sein müsse, auf Eigenschaften also, die das ganze Land und all 
            seine Bewohner teilen. Die Idee von Swissness erfüllt dieses 
            Kriterium genau so wie die Ideologie der SVP. Und dennoch taugen sie 
            alle beide nicht für die Zukunft.
          Oder etwa gerade deswegen? Ein Schlüsselsatz 
            findet sich im erwähnten Beitrag von Jean-Martin Büttner: 
            "Wo immer Schweizer oder die Schweiz im Ausland brillieren, ..., 
            wird gerade keine Swissness verbreitet, sondern eine individuelle 
            Leistung erbracht." Richtig ist, dass tatsächlich viele 
            Schweizer (und Schweizerinnen natürlich) brillieren, mit im Ausland 
            oder mit zu Hause erbrachten Leistungen, und zwar nicht nur an der 
            Spitze, sondern auf vielen Ebenen. Und richtig ist auch, dass all 
            diese respektierten Leistungsträger aus der Schweiz wesentlich 
            mehr unterscheidet als verbindet. Es handelt sich eben wirklich um 
            individuelle Leistungen, erbracht von Individuen, ja von Individualisten. 
            
          Könnte nicht genau darin das geheime Erfolgsrezept 
            der Schweiz liegen? Darin nämlich, dass sie ein hochgradig geeignetes 
            und günstiges Biotop für die Produktion von Individualisten 
            ist? Und dass die Schweiz frühzeitig ein gesellschaftliches Phänomen 
            hegte und pflegte, das die Gilde der Trendforscher heute völlig 
            richtig als "Megatrend Individualisierung" bezeichnet?
          Dafür spricht einiges. Ein kulturelles Biotop, 
            in dem auf so engem Raum so viele verschiedene Arten und Gattungen 
            zusammen leben müssen, zwingt zur Anpassung, bei Strafe des Untergangs. 
            In den Genen der Schweiz stecken deshalb die Früchte dieser Anpassungsleistung: 
            Man lässt sich gegenseitig so weit wie möglich in Ruhe und 
            pflegt die Devise von leben und leben lassen. Das ist pragmatisch 
            und weit weniger spektakulär als die Neigung, sich in alles einzumischen, 
            ja es ist, sagen wir es offen, stinklangweilig.
          Und äusserst erfolgreich, wenn es darum geht, 
            die nötigen Freiräume zu gewährleisten, die Individualisten 
            zur eigenen Entfaltung brauchen. Dass die Schweiz so viele erfolgreiche 
            Individualisten hervorgebracht hat und weiterhin hervorbringt, spricht 
            dafür, dass die hohe Wertschätzung des Individuums hier 
            zu Lande nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis gepflegt 
            wird.
          Vom Eigensinn zum EigenSinn
          Zum Gedeihen dieses hiesigen Individualismus tragen 
            einige vermutlich zu Recht mit der Schweiz in Verbindung gebrachte 
            Eigenschaften bei: Eine Neigung zur Perfektion (Wenn schon individuelle 
            Selbstverwirklichung, dann aber auch gleich richtig!). Ein Drang nach 
            Unabhängigkeit (Was kümmert mich das Urteil der anderen, 
            ich gehe meinen Weg!). Und ein ausgeprägter Eigensinn.
          Eigensinn hat kein gutes Image, man verknüpft 
            den Begriff gerne mit der Figur des sturen Eigenbrötlers, der 
            ohne Rücksicht auf Verluste vorwärts stapft. Dabei meint 
            Eigensinn nichts anders, als Sinn im Eigenen zu finden. So verstandener 
            EigenSinn ist die Antriebskraft jedes wahren Individuums. Und zugleich 
            die Basis des Respekts vor den anders gearteten anderen Individuen. 
            
          Eines ist EigenSinn dagegen sicher nicht, nämlich 
            die Basis für ein uniformes Schweiz-Bild, wie es uns die SVP 
            andrehen will. Die Schweiz ist eben kein Sonderfall, sie besteht "nur" 
            aus lauter individuellen Sonderfällen. Das ist keine neue Erkenntnis, 
            sie steckte schon im berühmt-berüchtigten Slogan "La 
            Suisse nexiste pas", der ja nie meinte, es gäbe keine 
            Schweiz, sondern im Gegenteil, das Erfolgsgeheimnis der Schweiz bestünde 
            gerade darin, dass es nicht die eine, einzig gültige Schweiz 
            gebe, vielmehr eine Vielzahl individueller Schweizen, die es irgendwie 
            geschafft haben, einigermassen friedlich und kooperativ zusammenzuleben. 
            
          Exakt dieses Bewusstsein könnte die gesuchte 
            Alternative zu den gängigen Bildern werden: die Schweiz als ideales 
            Biotop für souveräne und eigensinnige Individualisten. Und 
            denen gehört die Zukunft, weil nur sie über das kreative 
            Potenzial verfügen, das wir zum Erhalt unseres Wohlstands dringend 
            brauchen. 
          Den Eigensinnigen gehört die Zukunft  
            denn EigenSinn macht mehr und mehr Sinn. Ein Land jedoch hat nicht 
            dann eine Zukunft, wenn es sich einen uniformen EigenSinn verordnet, 
            sondern wenn es seinen individuellen Eigensinnigen den nötigen 
            Raum zur Entfaltung bietet. Die Schweiz ist dabei auf einem guten 
            Weg.