Gleichmacherei
                war eines der großen Themen des 20. Jahrhunderts. Im Deutschland des Dritten
                Reichs wurde es versucht, in der Sowjetunion, in China, in Kambodscha. Das
                ausprobierte Gesellschafts-Modell war in allen Fällen ebenso ähnlich wie
                simpel: Ganz oben der Führer, dann die Partei, und darunter die
                gleichgeschalteten Volks- oder Klassen-Genossen. Und jene, die sich nicht
                gleichschalten lassen konnten oder wollten, wurden eliminiert. 
              Bekanntlich
                sind all diese Versuche gescheitert, unter unvorstellbaren Opfern. Wenn diese
                aus der Perspektive der Nachwelt denn wenigstens so etwas wie einen Sinn gehabt
                haben sollen, dann kann er nur in einem kollektiven Lernschritt bestehen. Der
                unmissverständlich beinhaltet: Gleichmacherei kann nicht funktionieren.
              Und
                wenn jemand von Zweifeln an dieser Einsicht angekränkelt werden sollte, dann
                möge er doch bitte seine Hand umdrehen, mit den Augen nahe an die Fingerkuppen
                gehen und sich dort jenes Linienmuster ansehen, das auf jeder Fläche, die wir
                damit anfassen, das hinterlässt, was jeder Krimi-Leserin als Fingerabdruck
                bestens bekannt ist. Und sich dann die Frage stellen, warum die Evolution wohl
                so etwas wie unsere einzigartigen und unverwechselbaren Fingerabdrücke
                geschaffen hat.
              Um
                es der Polizei zu erleichtern, die bösen Gauner zu fassen und zu überführen?
                Wohl kaum. Die Evolution peilt keine festgelegten Ziele an und hätte sicher
                nicht die Phantasie gehabt, sich so etwa wie die Kriminalpolizei vorzustellen.
                In der Evolution geht es viel handfester zu, da überlebt eine „Erfindung“ nur,
                wenn sie einen offenkundigen Vorteil bringt. Doch ich kann mir meinen Kopf
                zerbrechen, so lange ich will: Was individuelle, unverwechselbare Muster in den
                Fingerkuppen einer Art gegenüber einer anderen bringen, bei der alle die
                gleichen Muster haben, an Vorteilen bringen soll, kann ich mir beim besten
                Willen nicht vorstellen.
              Und
                deswegen interpretiere ich die individuellen Fingerabdrücke lieber als
                symbolisches Markenzeichen, das stellvertretend für eine grundlegende
                Eigenschaft der Evolution steht: Sie tendiert zu individuellen Variationen.
                Deswegen hat sie ja auch den Sex erfunden: Wenn Nachkommen durch eine
                Vermischung von komplexem Genmaterial zweier Elternteile entstehen, ist die
                Bildung einer großen Variationsbreite unvermeidlich. Weshalb die Muster in
                unseren Fingerkuppen ja nur einen winzigen Ausschnitt aus der ganzen Bandbreite
                an individualisierten Merkmalen bilden. Auch unsere Iris ist beispielsweise
                unverwechselbar individuell gemustert. Wenn man die Illusion, alle Körper seien
                und funktionierten genau gleich, loslässt, entdeckt man immer mehr
                Eigenschaften und Prozesse, die sich von Mensch zu Mensch unterscheiden.
              Wie
                sollte also etwas, was sich bereits auf der körperlichen Ebene so unübersehbar
                zeigt, nicht auch in unserem Verhalten und in unserem Inneren zu finden sein?
                Auch wenn es banal klingen mag, so lohnt es sich doch, immer wieder zu
                wiederholen, dass Menschen nicht gleich sind und nicht gleich ticken.
              Denn
                die Botschaft ist nicht ganz leicht zu schlucken. Nur wenn wir unser selbst
                ganz sicher sind, wenn wir in uns ruhen und mit uns selbst im Reinen sind,
                können wir die Andersartigkeit der anderen als Bereicherung nicht nur
                akzeptieren, sondern auch genießen. Fehlt diese Selbst-Sicherheit jedoch, wirkt
                die Unterschiedlichkeit als Bedrohung. Vermeintliche Sicherheit gewinnen wir
                dann nur, wenn uns die anderen in unserem unsicheren So-Sein bestätigen, indem
                sie gleich sind wie wir. Diesen Gefallen können sie uns natürlich nicht tun,
                und das werfen wir ihnen dann vor. Und versuchen, sie von der Überlegenheit
                unseres So-Seins zu überzeugen, notfalls auch mit Gewalt...
              Das
                einzige Heilmittel für diese unheilvolle Konfliktursache ist jenes
                Selbstbewusstsein, das aus Selbst-Bewusstsein wächst. Aus einem Bewusstsein von
                sich selbst. Und das heißt zwingend: aus einem Bewusstsein des eigenen Eigenen. 
              Nur
                wenn wir wissen, was unser unverwechselbares Eigenes ausmacht und ist, das, was
                uns von allen anderen unterscheidet, können wir jenes Selbst-Bewusstsein
                entwickeln, das Voraussetzung für die Begegnung von einem Eigenen mit einem
                anderen bildet. Schließlich ist es diese Einzigartigkeit, die uns unersetzbar
                macht, weil kein anderer Mensch genau diesen Platz in der Welt einnehmen
                könnte. Diese Einsicht ist durchaus geeignet, unserem Leben (zusätzlichen) Sinn
                zu verleihen.
              Doch
                Achtung! Empfindungen von Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit können leicht zu
                Blähungen des Egos führen, zu Grandiositäts-Träumen und Allmachts-Phantasien,
                und das sind äußerst unangenehme Nebenwirkungen. Das Selbstbewusstsein, das
                sich aus dem Bewusstsein des Eigenen nährt, bedarf des Gegengewichts der
                Bescheidenheit, die auf der Einsicht beruht, neben Unterschieden zwischen den
                Menschen gäbe es auch viele Gemeinsamkeiten, und aus der Erkenntnis, die Welt
                oder die Schöpfung oder die Evolution wären zwar ohne die Variation der eigenen
                Wenigkeit etwas weniger interessant oder hübsch als mit, käme aber insgesamt
                doch auch ohne ganz gut aus...
              Selbsterkenntnis,
                die Entdeckung des Eigenen, geht aber auf jeden Fall der Selbstverwirklichung,
                also der Realisierung des Eigenen, voran. Man muss erst wissen, was dieses
                Selbst ist, ehe man es verwirklichen kann. Bei der Entdeckung des Eigenen
                können wir uns vornehmlich äußeren Aspekten zuwenden, was oft dazu führt, dass
                wir uns zwanghaft originell kleiden oder gebärden. Das hat mit
                Selbstverwirklichung so viel zu tun wie Fasching mit dem Rest des Jahres:
                Zwischenrein mal ganz hübsch, aber letztlich doch keine Jahres füllende
                Beschäftigung für einen erwachsenen Menschen. 
              Die
                Musik der Selbstverwirklichung spielt anderswo, nämlich in unserem Inneren.
                Dort, bei unseren Werten, Gedanken, Ideen, Empfindungen und Gefühlen, sind wir
                wirklich frei genug, um unser Eigenes zu leben. Dort haben wir die Kompetenz,
                uns nach unserem eigenen Bilde zu formen und Selbst-Kompetenz zu erwerben, was
                sich hoffentlich eines Tages auch auf unser Verhalten und den Umgang mit
                anderen auswirkt. 
              Selbstverwirklichung
                als Realisierung unseres Eigenen bedeutet ganz wesentlich, unser Leben nach
                unseren eigenen Werten zu gestalten. Dazu brauchen wir Freiheit und
                Unabhängigkeit – innere, geistige noch viel mehr als äußere. Dazu gehört
                ein großes Maß an Treue zu sich selbst. Und die Möglichkeit, sich jederzeit im Spiegel
                mit gutem Wissen betrachten zu können. Selbstverwirklichung, die auf Kosten
                anderer geht, lässt sich zwar nicht immer ganz vermeiden. Aber wenn sie nur
                möglich ist, indem wir andere überfahren, belastet sie unser
                Lebensqualitäts-Konto.
              Gemäß
                den Gesetzen der Individualisierung muss auch der Beitrag der Sphäre des
                Eigenen zu unserer Gesamt-Lebensqualität unterschiedlich ausfallen. Tatsächlich
                gibt es Menschen, die sich in einer Uniform am wohlsten fühlen – für
                innere Uniformen gilt dies leider noch mehr als für äußere. Doch die
                Individualisierung, also der Drang, sein Eigenes zu entdecken und zu leben,
                schreitet global voran, selbst in bisher stark kollektiv dominierten Kulturen.
                Evolutionär gesehen macht das Sinn, denn individuelle Variationen beflügeln nicht
                nur den Wettbewerb um die beste Lösung. Sie sind auch einfach spannend und
                machen Spaß...