Einen
                nicht ganz unwesentlichen Beitrag zu meiner Lebensqualität, vor allem in der
                Sphäre des Tuns, liefert das seltsame Phänomen, dass mir immer wieder
                Geschichten, Ideen, Bilder oder Zitate genau in dem Moment zufallen, in dem ich
                mich mit dem entsprechenden Thema beschäftige. So auch dieses Mal. In meinem
                Leibblatt fand ich eben einen Ausschnitt aus dem „Katalog von Allem“ des
                Schweizer Autors Peter K. Wehrli, just zum Stichwort:
              1484.
                die Lebensfreude
              die
                Knaben, die immer, wenn wieder ein Auto auf der Piste nach Macaneta im Sand
                vorbeischlingert, in heftige Tanzschritte ausbrechen, die wir Europäer als
                Ausdruck von Lebensfreude verstehen, fälschlicherweise, weil ihr Tanz nicht von
                übermütiger Unbekümmertheit ausgelöst wird, sondern von der schieren
                Notwendigkeit, den Automobilisten mit ihrer Show ein paar Meticais zum
                Überleben abzuluchsen.
              So
                viel zum weit verbreiteten Klischee, den armen Menschen des Südens würde ihr
                Schicksal mit überschäumender Lebensfreude kompensiert. Wobei überschäumende
                Lebensfreude derzeit in den Zeiten der Krise, in denen es nichts zu lachen
                gibt, ohnehin kein Problem sein dürfte. 
              Das
                war auch schon mal anders. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts machte ein
                Begriff Furore, der mittlerweile wieder weitgehend verschwunden ist: die
                Spaßgesellschaft. Deren Hauptaussage lautete: Alles, was keinen Spaß macht
                – oder auf Neudeutsch keinen fun bringt – ist nichts wert. Dass das eine ziemlich eindimensionale
                  Sichtweise bildet, hinderte die Anhänger der Spaßgesellschaft nicht am Abfeiern
                  einer permanenten überschäumenden Party. Die Party ist jetzt aus, und die
                  Spaßgesellschaft wurde entsorgt.
              Nun
                sollte man auch hier nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Die Werte, mit
                denen wir es in der Sphäre der Lebensfreude zu tun haben, also Genuss, Spaß,
                Vergnügen, Erotik, Glück, Abwechslung und so, können ja nichts dafür, dass sie
                von manchen Menschen verabsolutiert worden sind, was bekanntlich für die
                Lebensqualität selten gesund ist. Dass eine Portion Lebensfreude, im richtigen
                Maß in unseren Werte-Cocktail gemischt, unserem Lebensqualitäts-Konto
                ausgesprochen gut tut, steht dagegen außer Frage. Darauf gänzlich zu
                verzichten, wäre also ebenso töricht wie im Leben ausschließlich auf Spaß und
                Genuss zu setzen.
              Und
                dafür, dass wir uns unsere Lebensfreude nicht mehr beliebig viel kosten lassen
                können, hat der kürzlich verstorbene Erfolgsschriftsteller Simmel einen
                hübschen Trost parat: Es muss nicht immer Kaviar sein! Wer es einmal erlebt
                hat, kann es bestätigen: Nach einer anstrengenden Bergwanderung schmeckt
                simples Quellwasser besser als jeder Jahrgangschampagner. Kostet nichts, außer
                der voran gegangenen Anstrengung.
              Fast
                an jedem Wegesrand findet sich eine Blume, und sei es auch nur eine Eisblume.
                Sich an ihr zu freuen, kostet nichts, außer offenen Augen. Auch ein uns
                geschenktes Lächeln kostet nichts, außer der Bereitschaft, zurück- oder noch
                besser vorauszulächeln. Nicht finanzielle Kosten limitieren unsere
                Lebensfreude, sondern höchstens das Maß unserer Phantasie und Kreativität
                dabei, Quellen für sie zu erschließen.
              Hinderlich
                dabei ist die weit verbreitete Überzeugung, Vergnügen stelle sich nur ein, wenn
                das dazu gehörige Ereignis möglichst spektakulär sei, weshalb so viele dem
                Größten, Stärksten und Außergewöhnlichsten nachrennen. Das ist eine
                Verwechslung. Intensive Lebensfreude – und um die geht es – findet
                sich nicht nur im Spektakulären. Natürlich ist ein knallender Sonnenuntergang
                spektakulärer als das Licht einer einsamen Kerze in der Nacht, doch intensiv
                freuen können wir uns an beidem, was sich auch auf das Verhältnis zischen einem
                üppigen Blumenbouquet und einer unscheinbaren kleinen Blume im Geröll
                übertragen lässt. 
              Wie
                wir unsere Lebensqualitäts-Sphäre der Lebensfreude mit Genuss, Freude, Spaß und
                Vergnügen konkret ausgestalten, bleibt natürlich einmal mehr dem Individuum und
                seinen persönlichen Vorlieben und Geschmäckern vorbehalten, denn diese sind nun
                mal so unverrückbar verschieden gefärbt, dass sogar der Volksmund zum Schluss
                kommt, über Geschmack ließe sich nicht streiten. Was bei der einen die
                Lebensfreude stärkt, dämpft sie beim anderen. Es braucht eine lange Weile der
                Reifung, um herauszufinden, was einem gut tut und was nicht (siehe nächstes
                Kapitel), doch das Phänomen, dass die meisten Menschen bei diesem
                Klärungsprozess mit zunehmenden Alter tatsächlich vorankommen, könnte eine
                Erklärung für die bessere Lebensqualität im reiferen Alter sein: Wer weiß, wie
                er mit minimalem Aufwand optimale Lebensfreude gewinnt, verbessert damit automatisch
                sein Lebensqualitäts-Konto.
              Klar
                sein sollten wir uns darüber, dass wir bei der Steigerung unserer Lebensfreude
                an ungerecht verteilte Grenzen stoßen können. Es gibt nun mal geborene
                Frohnaturen und Griesgrame. Um dasselbe Maß an Lebensfreude zu erlangen,
                müssten die Letzteren viel mehr investieren als die Ersteren. Falls es ihnen
                überhaupt gelänge. Tragisch wird das nur dann, wenn der geborene Griesgram
                Lebensfreude zu seiner wichtigsten Lebensqualitäts-Sphäre ernennt. Das muss
                jedoch nicht sein. Auch ohne maximale Lebensfreude ist ein befriedigender Stand
                des Lebensqualitäts-Kontos denkbar und möglich. 
              Lebensfreude
                entsteht eben nicht nur aus Spaß und Vergnügen, wie die Spaßgesellschaft
                fälschlicherweise annahm, sie kann beispielsweise auch aus dem Gefühl
                entstehen, eine Pflicht erfüllt oder eine anstrengende Leistung erbracht zu
                haben. Und natürlich auch aus dem Genuss und der Entspannung, die wir uns
                danach gönnen. Wir werden der Sphäre der Lebensfreude am besten gerecht, wenn
                wir uns zunehmend bewusst werden, wie viele subtile Facetten sie haben kann
                – wenn wir die Augen offen halten.
              Wen
                wir schon bei offenen Augen – oder noch besser Ohren – sind, lohnt
                es sich, noch einmal auf den Klang des Wortes zu hören, den ich bewusst zur
                Bezeichnung dieser Sphäre gewählt habe: Lebensfreude bedeutet nämlich immer
                auch die Freude am ganzen Leben. Dass dieses nicht nur aus Spaß und Vergnügen
                besteht und insgesamt kein reines Zuckerschlecken ist, wissen wir Menschen seit
                der Vertreibung aus dem Paradies. 
              Und
                sind seit damals daran zu lernen, dass Lebensqualität nicht darin bestehen
                kann, die anderen, dunkleren Seiten des Lebens wie Leid und Trauer, Krankheit
                und Tod, möglichst stark zu bekämpfen, zu vermeiden und zu verdrängen, um
                möglichst viel Raum für Vergnügen und Spaß und Glück zu schaffen. Wahre
                Lebensfreude akzeptiert auch diese dunkle Seite als unvermeidlichen Bestandteil
                unseres Lebens, ja, sie anerkennt, dass Hell und Dunkel, Freud und Leid
                untrennbar zusammengehören wie Vordergrund und Hintergrund, weshalb das Eine
                nicht ohne das Andere zu haben ist. So wie erst echter Durst den wahren Genuss
                reinen Quellwassers ermöglicht...