Moses 2.0: Wie wir gemeinsam den Wandel vom Lebensstandard zur Lebensqualität schaffen

Bekenntnisse eines Generalisten für reifende Lebensqualität

19. Die Sphäre der Lebensfreude

Einen nicht ganz unwesentlichen Beitrag zu meiner Lebensqualität, vor allem in der Sphäre des Tuns, liefert das seltsame Phänomen, dass mir immer wieder Geschichten, Ideen, Bilder oder Zitate genau in dem Moment zufallen, in dem ich mich mit dem entsprechenden Thema beschäftige. So auch dieses Mal. In meinem Leibblatt fand ich eben einen Ausschnitt aus dem „Katalog von Allem“ des Schweizer Autors Peter K. Wehrli, just zum Stichwort:

1484. die Lebensfreude

die Knaben, die immer, wenn wieder ein Auto auf der Piste nach Macaneta im Sand vorbeischlingert, in heftige Tanzschritte ausbrechen, die wir Europäer als Ausdruck von Lebensfreude verstehen, fälschlicherweise, weil ihr Tanz nicht von übermütiger Unbekümmertheit ausgelöst wird, sondern von der schieren Notwendigkeit, den Automobilisten mit ihrer Show ein paar Meticais zum Überleben abzuluchsen.

So viel zum weit verbreiteten Klischee, den armen Menschen des Südens würde ihr Schicksal mit überschäumender Lebensfreude kompensiert. Wobei überschäumende Lebensfreude derzeit in den Zeiten der Krise, in denen es nichts zu lachen gibt, ohnehin kein Problem sein dürfte.

Das war auch schon mal anders. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts machte ein Begriff Furore, der mittlerweile wieder weitgehend verschwunden ist: die Spaßgesellschaft. Deren Hauptaussage lautete: Alles, was keinen Spaß macht – oder auf Neudeutsch keinen fun bringt – ist nichts wert. Dass das eine ziemlich eindimensionale Sichtweise bildet, hinderte die Anhänger der Spaßgesellschaft nicht am Abfeiern einer permanenten überschäumenden Party. Die Party ist jetzt aus, und die Spaßgesellschaft wurde entsorgt.

Nun sollte man auch hier nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Die Werte, mit denen wir es in der Sphäre der Lebensfreude zu tun haben, also Genuss, Spaß, Vergnügen, Erotik, Glück, Abwechslung und so, können ja nichts dafür, dass sie von manchen Menschen verabsolutiert worden sind, was bekanntlich für die Lebensqualität selten gesund ist. Dass eine Portion Lebensfreude, im richtigen Maß in unseren Werte-Cocktail gemischt, unserem Lebensqualitäts-Konto ausgesprochen gut tut, steht dagegen außer Frage. Darauf gänzlich zu verzichten, wäre also ebenso töricht wie im Leben ausschließlich auf Spaß und Genuss zu setzen.

Und dafür, dass wir uns unsere Lebensfreude nicht mehr beliebig viel kosten lassen können, hat der kürzlich verstorbene Erfolgsschriftsteller Simmel einen hübschen Trost parat: Es muss nicht immer Kaviar sein! Wer es einmal erlebt hat, kann es bestätigen: Nach einer anstrengenden Bergwanderung schmeckt simples Quellwasser besser als jeder Jahrgangschampagner. Kostet nichts, außer der voran gegangenen Anstrengung.

Fast an jedem Wegesrand findet sich eine Blume, und sei es auch nur eine Eisblume. Sich an ihr zu freuen, kostet nichts, außer offenen Augen. Auch ein uns geschenktes Lächeln kostet nichts, außer der Bereitschaft, zurück- oder noch besser vorauszulächeln. Nicht finanzielle Kosten limitieren unsere Lebensfreude, sondern höchstens das Maß unserer Phantasie und Kreativität dabei, Quellen für sie zu erschließen.

Hinderlich dabei ist die weit verbreitete Überzeugung, Vergnügen stelle sich nur ein, wenn das dazu gehörige Ereignis möglichst spektakulär sei, weshalb so viele dem Größten, Stärksten und Außergewöhnlichsten nachrennen. Das ist eine Verwechslung. Intensive Lebensfreude – und um die geht es – findet sich nicht nur im Spektakulären. Natürlich ist ein knallender Sonnenuntergang spektakulärer als das Licht einer einsamen Kerze in der Nacht, doch intensiv freuen können wir uns an beidem, was sich auch auf das Verhältnis zischen einem üppigen Blumenbouquet und einer unscheinbaren kleinen Blume im Geröll übertragen lässt.

Wie wir unsere Lebensqualitäts-Sphäre der Lebensfreude mit Genuss, Freude, Spaß und Vergnügen konkret ausgestalten, bleibt natürlich einmal mehr dem Individuum und seinen persönlichen Vorlieben und Geschmäckern vorbehalten, denn diese sind nun mal so unverrückbar verschieden gefärbt, dass sogar der Volksmund zum Schluss kommt, über Geschmack ließe sich nicht streiten. Was bei der einen die Lebensfreude stärkt, dämpft sie beim anderen. Es braucht eine lange Weile der Reifung, um herauszufinden, was einem gut tut und was nicht (siehe nächstes Kapitel), doch das Phänomen, dass die meisten Menschen bei diesem Klärungsprozess mit zunehmenden Alter tatsächlich vorankommen, könnte eine Erklärung für die bessere Lebensqualität im reiferen Alter sein: Wer weiß, wie er mit minimalem Aufwand optimale Lebensfreude gewinnt, verbessert damit automatisch sein Lebensqualitäts-Konto.

Klar sein sollten wir uns darüber, dass wir bei der Steigerung unserer Lebensfreude an ungerecht verteilte Grenzen stoßen können. Es gibt nun mal geborene Frohnaturen und Griesgrame. Um dasselbe Maß an Lebensfreude zu erlangen, müssten die Letzteren viel mehr investieren als die Ersteren. Falls es ihnen überhaupt gelänge. Tragisch wird das nur dann, wenn der geborene Griesgram Lebensfreude zu seiner wichtigsten Lebensqualitäts-Sphäre ernennt. Das muss jedoch nicht sein. Auch ohne maximale Lebensfreude ist ein befriedigender Stand des Lebensqualitäts-Kontos denkbar und möglich.

Lebensfreude entsteht eben nicht nur aus Spaß und Vergnügen, wie die Spaßgesellschaft fälschlicherweise annahm, sie kann beispielsweise auch aus dem Gefühl entstehen, eine Pflicht erfüllt oder eine anstrengende Leistung erbracht zu haben. Und natürlich auch aus dem Genuss und der Entspannung, die wir uns danach gönnen. Wir werden der Sphäre der Lebensfreude am besten gerecht, wenn wir uns zunehmend bewusst werden, wie viele subtile Facetten sie haben kann – wenn wir die Augen offen halten.

Wen wir schon bei offenen Augen – oder noch besser Ohren – sind, lohnt es sich, noch einmal auf den Klang des Wortes zu hören, den ich bewusst zur Bezeichnung dieser Sphäre gewählt habe: Lebensfreude bedeutet nämlich immer auch die Freude am ganzen Leben. Dass dieses nicht nur aus Spaß und Vergnügen besteht und insgesamt kein reines Zuckerschlecken ist, wissen wir Menschen seit der Vertreibung aus dem Paradies.

Und sind seit damals daran zu lernen, dass Lebensqualität nicht darin bestehen kann, die anderen, dunkleren Seiten des Lebens wie Leid und Trauer, Krankheit und Tod, möglichst stark zu bekämpfen, zu vermeiden und zu verdrängen, um möglichst viel Raum für Vergnügen und Spaß und Glück zu schaffen. Wahre Lebensfreude akzeptiert auch diese dunkle Seite als unvermeidlichen Bestandteil unseres Lebens, ja, sie anerkennt, dass Hell und Dunkel, Freud und Leid untrennbar zusammengehören wie Vordergrund und Hintergrund, weshalb das Eine nicht ohne das Andere zu haben ist. So wie erst echter Durst den wahren Genuss reinen Quellwassers ermöglicht...

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No risk, no fun?

Dieses süße Kätzchen auf Kreta (siehe Bild) hat mir, als ich es auf den Arm nehmen wollte, einen ordentlichen Kratzer verpasst. Da ich ein großer Katzenfan bin, habe ich dieses Risiko in Kauf genommen, weil als Lohn ein noch engerer Kontakt mit dem Pelzgeschöpf winkte. Wie sagt doch der Volksmund auf Neudeutsch? Richtig: No risk, no fun!

Auch ich habe im Laufe eines langen Lebens manches Risiko auf mich genommen, in den äußeren wie den inneren Welten, um meine Lebensfreude zu steigern. Manchmal hat sich das Risiko gelohnt, manchmal nicht, doch dass wer nichts wagt, auch nichts gewinnen kann, hat sich natürlich bestätigt. Ein gewisses Maß an Risko gehört zum Leben. Mit Betonung auf „ein gewisses Maß“.

Wenn mich am Slogan „no risk, no fun“ nämlich immer etwas gestört hat, dann war es eine missverstehende Interpretation. Aus einem unbestreitbar existierenden Zusammenhang zwischen Risiko und Freude wurde eine andere Gleichung abgeleitet: the more risk, the more fun. Je mehr Risiko, desto mehr Spaß. Was ich nun wirklich nur mit einem deutlichen Begriff kommentieren kann: Quatsch!

Es ist ja tatsächlich nicht zu übersehen, dass es Menschen gibt, die einen intensiven Risiko-Kick brauchen, um Spaß zu haben – die diversen Extremsportarten wären sonst nicht so erfolgreich. Wenn die das brauchen, sollen sie ruhig, ich dagegen bin froh, von solchen Adrenalinstößen nicht abhängig zu sein. Das verschafft mir die risikoarme Muße, mich beispielsweise mit dem Thema des Risikos beim Bergsteigen zu befassen.

Dabei erfahre ich, was eigentlich nahe liegt: Die erfolgreichsten Bergsteiger sind jene, die überlebt haben. Dazu gehört ein Gespür für den schmalen Grat zwischen vertretbarem, ja notwendigem Risiko, also Mut, und Übermut. Dieser Sinn für das richtige Maß ermöglicht es, bei Bedarf auch mal umzukehren.

Nicht alle Bergsteiger, die umgekommen sind, haben ihr jähes Ende einem Mangel an Maß für das richtige Risiko zu verdanken, dumme Zufälle und Pech können natürlich auch im Spiel sein. Doch die Chance zu überleben steigt sicher für jene, die den Zusammenhang zwischen Risiko und Spaß nicht bis ins Unendliche ausdehnen, sondern rechtzeitig aufhören können.

Was ich daraus gelernt habe? Lebensfreude ist ein nachhaltiges Gut, das wir nachhaltig nur dann fördern, wenn wir auch mal auf kurzfristige Gewinne verzichten können. Eigentlich ganz wie in der Wirtschaft...