Hätte
              man die Menschen vor fünfhundert, hundert oder auch nur fünfzig Jahren gefragt,
              was für sie eine optimale Lebensqualität bedeutet, wären die damaligen
              Vorstellungen mit Sicherheit deutlich anders ausgefallen als die heutigen.
              Dasselbe Phänomen können wir an uns selbst feststellen, auch unsere
              Vorstellungen von optimaler Lebensqualität wandeln sich im Laufe eines Lebens.
              Schon hier sehen wir die Richtigkeit der Betrachtungsweise, wonach nichts auf
              dieser Welt bleibt, wie es ist, sondern alles sich ständig wandelt. „Alles
              fließt“, wie schon die alten Griechen sagten.
            Die
              meisten schon etwas in die Jahre gekommenen Menschen spüren manchmal so etwas
              wie ein metaphysisches Gruseln, wenn sie sich fragen, was sie eigentlich noch
              mit ihrer früheren Ausgabe von vor zwanzig oder dreißig Jahren zu tun haben.
              Was ja eine berechtigte Frage ist. Wir werden im Laufe solcher Zeiträume
              tatsächlich anders. Und das ist gut so. Ich halte es hier mit Brecht, der in
              einer winzigen Geschichte seinen Helden, Herrn K. auf einen alten Bekannten
              treffen lässt, den er lange nicht gesehen hat. Dieser Bekannte meint, Herr K.
              habe sich gar nicht verändert. Die Geschichte endet so: Herr K. erbleichte.
            Blieben
              wir, wie wir sind, hätten wir gar nichts davon, dass wir älter werden. Älter
              werden wir nun mal unausweichlich. Und deshalb sollten wir auch etwas davon
              haben. Indem wir uns verändern. Und zwar zum Besseren. Also indem wir reifen.
            Vom
              Käse lernen, heißt dabei siegen lernen. Guter Käse (und guter Wein) braucht
              eine Zeit der Reifung, um seinen optimalen Geschmack zu entfalten. Dasselbe
              gilt für uns Menschen: Reifung verbessert unsere Lebensqualität (siehe auch
              Kapitel 14, Die Sphäre der Zeit). Doch um die Sphäre der Reifung für unsere
              Lebensqualität voll nutzen zu können, braucht es zunächst eine Einsicht: Älter
              werden wir von allein. Reifer nicht.
            Reifung
              bedeutet Entwicklung auf ein bestimmtes, positiv bewertetes Ziel hin. Zu diesem
              Idealziel vollendeter Reife, das wir so wohl kaum erreichen können, gehören
              Werte wie Lernen und Wissenserwerb, Selbst-Bewusstsein im Sinne von
              Selbsterkenntnis, aber auch von Gelassenheit und innerer Ruhe, im Reinen mit
              sich selbst zu sein, Vertrauen in den eigenen inneren Kompass, soziale
              Fähigkeiten, die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können,
              sowie das Wissen darum, was man wirklich will und was einem wirklich gut tut.
              Wir könnten diesen idealen Endpunkt eines Reifungsprozesses auch mit dem
              schönen Wort Weisheit bezeichnen – im vollen Bewusstsein darum, dass wir,
              oder jedenfalls die meisten von uns, nie wirklich weise werden können, sehr
              wohl aber weiser.
            Wenn
              wir die Sphäre der Reifung vom Ende her betrachten, also vom Zustand idealer
              Reife oder Weisheit aus, nützt sie uns wenig, denn dann werden wir immer eine
              Diskrepanz zwischen Soll und Ist feststellen, die uns unzufrieden macht. Zur
              Orientierung, also zur Frage, ob wir uns auf dem richtigen Kurs befinden, sind
              solche Blicke voraus in Richtung Idealziel sinnvoll, doch zu unserer
              Lebensqualität trägt der Blick zurück auf die Wegstrecke, die wir bei unseren
              Reifungsprozessen schon bewältigt haben, deutlich mehr bei. Der Weg ist hier
              tatsächlich das Ziel.
            Wie
              jeder Weg kennt auch der Weg der Reifung seine Störungen und Unterbrüche und
              Umwege. Und wenn wir das Bild aufs Wasser verlegen, dann können wir oft nicht
              direkt auf unser Ziel los segeln, sondern müssen gegen den Wind kreuzen, was
              dazu führen kann, dass wir uns scheinbar vom Ziel weg bewegen. All das ist
              nicht weiter schlimm, solange wir insgesamt den Eindruck haben, in der
              richtigen Richtung unterwegs zu sein.
            Nicht
              nur Orientierung für unsere Lebensgestaltung bietet die Sphäre der Reifung an,
              sondern auch Identität („ich reife, also bin ich“) und Sinn („ein Sinn des
              Lebens ist es zu reifen“). Tatsächlich werden Sinn-Fragen im Laufe eines
              Reifungsprozesses anders gestellt und anders beantwortet, eine unmittelbare
              Nähe der beiden Sphären von Sinn und Reifung ist also gegeben. Da unsere
              Fähigkeit, Sinn-Quellen zu erschließen, sich durch Reifung steigern lässt,
              steigt unser Lebensqualitäts-Konto mit zunehmendem Alter auch dank dieses
              Zusammenhangs.
            Wenn
              ich von Reife und Reifung schwärme und dabei auch auf das Bild des reifen
              Apfels verweise, der ja etwas ganz anderes ist als ein alter Apfel, bekomme ich
              von Menschen, die gerne überall ein Haar in der Suppe finden, manchmal zu
              hören, dieses Bild erinnere sie aber fatal an die Möglichkeit von Überreife.
              Und das sei bekanntlich etwas ziemlich ekliges. 
            Ich
              kann darauf jeweils nur entgegnen: Na und? Tatsächlich gibt es in der Natur
              nirgendwo so etwas wie ewige Reife, und so können auch wir Menschen keinen
              Anspruch darauf erheben, im Zustand optimaler Reifung zu verharren, wenn wir
              ihn denn erreicht haben. Ungeschminkt formuliert: Wir reifen natürlich auch zum
              Tode hin. So ist es, und deshalb nicht so schlimm. Mal abgesehen davon, dass
              ich die Vorstellung, auf ewig im selben unveränderbaren Zustand verharren zu
              müssen, selbst wenn dies der Zustand idealer Reife wäre, schlimmer finde als
              jene vom endgültigen Tod. So paradox es klingen mag: Unsere Lebensqualität wird
              durch das Wissen darum, dass sie nicht ewigen Bestand haben wird, intensiver.
              Weshalb ein geglücktes Leben noch immer die beste Vorbereitung auf das
              unvermeidliche Ende bildet.
            So
              weit sind wir zum Glück noch nicht, und können uns deshalb getrost noch einem
              anderen wichtigen Aspekt der Sphäre der Reifung zuwenden, nämlich deren
              universaler Gültigkeit: Reifen können nicht nur Individuen, sondern auch
              Gemeinschaften wie Paare, Familien, Unternehmen oder ganze Gesellschaften.
              Reifer miteinander umgehen bedeutet, das Zusammenleben friedlicher, klüger,
              gelassener, toleranter zu gestalten. Weitere Aspekte einer reifen, ja
              vielleicht sogar weisen Gesellschaft können Sie sich sicher leicht selber ausmalen.
            Dabei
              hilft es mir, jeweils auch das Gegenteil einzubeziehen, also Unreife. Unreife
              Menschen und unreifes  Verhalten
              erkennen wir oft leichter als Reife, was uns dabei hilft, zwischen beidem
              unterscheiden zu lernen. Ganz offensichtlich war zum Beispiel die letzte
              amerikanische Regierung ein Ausbund von Unreife, von kindischer
              Selbstbezogenheit und pubertärer Fixierung auf übersimple Vorstellungen von Gut
              und Böse. Noch ist es zu früh für einen Beweis dafür, die neue Regierung
              verkörpere eine höhere  Reifungsstufe, doch Anlass zur Hoffnung gibt es.
            Beispiele
              für eine geradezu pubertäre Unreife finden sich auch in unserer näheren
              gesellschaftlichen Umgebung genug, woraus als Alternativentwurf leicht
              Vorstellungen einer gereiften Gesellschaft wachsen. Eine solche würde ohne
              Zweifel unser persönliches Lebensqualitäts-Konto deutlich verbessern. Nicht nur
              unsere persönliche Reifung, sondern auch jene der Gesellschaft, beeinflussen
              unsere Lebensqualität. Was uns darauf verweist, dass wir uns bei der Suche nach
              Möglichkeiten, unsere Lebensqualität zu optimieren, nicht auf eine reine
              Nabelschau beschränken sollten. Unsere Lebensqualität hat eben auch mit der
              Welt zu tun, in der wir leben. Und auch die wird zwar von allein älter, aber
              nicht reifer. Ganz ohne unser Zutun wird die kulturelle Evolution in Richtung
              Reife und Weisheit nicht stattfinden...