Echt wahr: Der unscheinbare Begriff Echtheit, den ich vielleicht gerade deswegen dem mondänen
              Zungenbrecher Authentizität vorziehe,
                hat es in der von der Bewusstseins-Elite erstellten Hitparade der heißen Werte
                im Jahr 2003 als Neueinsteiger gleich auf Platz acht geschafft. Und weitere
                zwei Jahre später finden wir Echtheit bereits auf Platz drei. Ganz offensichtlich kommen wir um den Wert
                  Echtheit nicht herum, wenn wir wissen wollen, was für unsere Lebensqualität
                  wichtig ist.
            Zusätzlich interessant wird der Wert Echtheit dadurch, dass er sich
              sowohl auf Menschen als auch auf Produkte beziehen kann. Wir können sowohl bei
              einer menschlichen Persönlichkeit wie auch bei einer Marken-Persönlichkeit gut
              zwischen echt und unecht unterscheiden. Und tatsächlich wird der Wert Echtheit
              auch als Marketing-Argument immer wichtiger. (Diese Parallelen, dies nur
              nebenbei, sind nicht zufällig. Wir hatten Millionen von Jahren Gelegenheit zu
              lernen, wie man menschliche Persönlichkeiten wahrnimmt, aber nur ein paar
              Jahrzehnte für die Wahrnehmung von Marken. Da lag es nahe, dass wir das
              Gelernte einfach übertragen und fortan Marken wie Menschen betrachtet haben.)
            Wie dem auch sei: Echtheit verkauft sich zunehmend besser. Wir umgeben
              uns lieber mit Menschen, die Echtheit ausstrahlen, als mit solchen, die
              offenbar Kunstwesen sind und nur Rollen spielen. Und wir kaufen lieber den Käse
              mit dem Echtheitssiegel als irgendeine anonyme Kopie. Echtheit wird immer mehr
              echt gut. Was uns zur Frage führt, was denn eigentlich Echtheit ausmacht. Dabei
              fallen einige Elemente sofort auf:
            Zunächst assoziieren wir Echtheit mit Herkunft. Echtheits-Beweise bei
              Lebens- und Genussmitteln, aber auch bei Erzeugnissen der Handwerkskunst, sind
              in der Regel Herkunfts-Zertifikate. Ein echtes Produkt muss von einem
              bestimmten Ort stammen und dessen Geschichte verkörpern.
            Selbiges gilt für Menschen. Ohne eine fassbare Geschichte - und sei sie
              noch so verworren - gestehen wir einem Menschen keine Echtheit zu, was mit ein
              Grund dafür sein dürfte, dass wir Echtheit eher mit reiferen Menschen verbinden
              als mit blutjungen. Letztere hatten einfach noch keine Gelegenheit, eine
              Geschichte erlebt zu haben.
            Besser dran sind da schon die Kinder, die wir ganz natürlich für echt
              halten, weil sie natürlich wirken. Natürlichkeit ist eine zweite eng mit
              Echtheit verknüpfte Assoziation. Das kann, muss aber nicht, eine enge
              Verbindung zur Natur bedeuten. Auch ein Kunstwerk aus künstlichen Materialien
              kann natürlich und damit echt wirken, wenn es ganz von innen kommt.
            Natürlichkeit wäre dann das Gegenteil von allem, was künstlich, was
              aufgesetzt - und damit unecht - wirkt. Authentisch und echt dagegen wirken
              Mensch wie Marke, wenn sie ausstrahlen, dass sie in Übereinklang mit sich
              selbst sind. Wir könnten dieses Element von Echtheit als Eigen-Resonanz bezeichnen: Die verschiedenen Schwingungen eines
                Menschen oder einer Marke klingen untereinander harmonisch.
            Im Begriff der Eigen-Resonanz finden wir das Element des Eigenen. Tatsächlich gibt es keine Echtheit ohne dieses
              Element. Wer oder was nichts Eigenes, nichts Individuelles, nichts
              Unverwechselbares ausstrahlt, wirkt notgedrungen immer wie eine Kopie und damit
              nicht echt. (siehe Kapitel 18, Die Sphäre des Eigenen)
            Machen wir die Probe aufs Exempel. Reichen die bisher angeführten
              Elemente, um Echtheit zu gewährleisten? Ich weiß, es ist etwas krass, wenn ich
              dafür Hitler und Stalin heranziehe, aber es zeigt sich so leichter, dass wir
              die Frage verneinen müssen. Denn natürlich hatten beide eine Herkunft und eine
              Geschichte, sie waren in natürlicher Eigen-Resonanz, und sie hatten
              offensichtlich auch eigene Ideen. Damit waren sie tatsächlich echt. Echt
              Scheiße eben.
            Leider können auch Räuber und Schlächter sehr wohl echt und authentisch
              sein, und ein echtes Gift wie jenes des Knollenblätterpilzes tötet genau so
              zuverlässig wie ein künstliches aus dem Labor. Echtheit als Wert zu
              verabsolutieren, wäre damit echt ein Holzweg.
            Wie immer kommt es auf die Werte-Mischung an. Echter Mist wird dadurch
              nicht besser, dass er echt ist. Echt gut ist eben nur, was vorher schon gut war
              und dadurch noch besser wird, dass es echt ist. Lebens- und menschenbejahende
              Werte können sich nur entfalten, wenn sie echt sind. Darin liegt die
              eigentliche Bedeutung des Werts Echtheit.
            Mal ganz abgesehen davon, dass es sich mit echten Marken und Menschen
              einfach besser lebt. Das gilt ganz besonders für das Zusammenleben mit jenem
              Menschen, mit dem wir am meisten zusammen sind, also für unser eigenes
              Verhältnis zu uns selbst. Echt zu sein, schafft Lebensqualität und Lebenssinn.
              Womit Echtheit tatsächlich ein wertvoller Wert ist.
            Lässt es sich lernen, echt zu sein? Vermutlich nicht, jedenfalls nicht
              durch Willensbeschluss. Macht aber nichts, denn wir sind schon echt. Gut,
              darauf hat sich im Laufe eines Lebens eine ganze Menge unechten Mülls
              abgelagert. Doch wir sind durchaus in der Lage, diesen Müll auch wieder
              wegzuräumen, um unserer eigentlichen echten Persönlichkeit Raum zu verschaffen.
              Echt zu werden, bedeutet demnach nichts anderes, als immer wieder das Unechte
              an uns selbst loszulassen. Alles, was recht ist, ist echt.
            Was nicht ganz einfach ist, aber machbar - und lockend, gehört doch dem
              und den Echten die Zukunft. Auf dem Weg zur Echtheit kann es nicht schaden,
              gelegentlich das dazu gehörige geistige Rüstzeug zu schärfen. Also unsere
              Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und Selbständigkeit. Wenn wir das
              schaffen, leisten wir einen wesentlichen Beitrag zum Lebensqualitäts-Konto.
              Unserem eigenen. Und dem unserer Mitmenschen...