Moses
              ist von der Vorstellung von Memen, die sich wie Viren neue Wirte suchen, um
              sich zu vermehren und auszubreiten, sehr angetan. Er hat die Grundzüge der
              Genetik und der Epidemiologie schnell begriffen und sieht jetzt echte Ansteckungs-Chancen
              für seine Ideen.
            Das
              Problem ist natürlich, dass Moses bei seiner Bildungs-Schnellbleiche nicht
              wirklich mitbekommen hat, welch lausiges Image Viren und ihre
              Ansteckungs-Prozesse haben. Viren attackieren und sind bedrohlich, vor Ansteckungs-Gefahren
              aller Art haben wir Angst. Und können bestenfalls auf ein gut ausgebildetes
              Immunsystem bauen.
            So
              verwurzelt ist dieses negative Bild, dass wir sofort zu wissen glauben, was
              gemeint ist, wenn von Computer-Viren die Rede ist. Auch diese attackieren von
              außen und dringen in unsere Rechner ein, den sie als unschuldigen Wirt
              benutzen, um Kopien von sich herzustellen und damit andere Computer zu
              infizieren. Womit wir schon mitten in der Welt geistiger Ansteckungs-Prozesse
              sind.
            Und
              auch diese sind vorwiegend angstbesetzt. Wie zum Beispiel in der Geschichte von
              den heimlichen Verführern. Da gab es doch vor rund fünfzig Jahren die Meldung,
              in einem amerikanischen Kino seien den Besuchern unterschwellige, das heißt nur
              ganz kurz eingeblendete Werbebotschaften (so kurz, dass man sie bewusst nicht
              wahrnahm) für Coca-Cola präsentiert worden, was in der Pause den Ansatz dieser
              Brause spürbar in die Höhe schnellen ließ. Und obwohl sich das Experiment nie
              wiederholen ließ, ja später als ausgemachter Schwindel enttarnt wurde, war das
              Mem in der Welt: Die Werbung kann und will uns mit unsichtbaren, aber wirksamen
              Botschaften manipulieren.
            Nun
              muss man wissen, dass sich dieses in den Zeiten des kalten Krieges ereignete,
              als auch in vielen Science-Fiction-Filmen die Angst vor unsichtbaren und
              heimtückischen Feinden grassierte, die sich in die Körper und Köpfe netter
              US-Girls und -Boys einschlichen und diese in gefährliche Monster verwandelten.
              Und es war die Zeit eines florierenden Hygiene-Wahns, in dessen Gefolge bei
              jeder passenden und vor allem unpassenden Gelegenheit Gallonen von
              Desinfektionsmitteln flossen. Diesen Hintergrund zu kennen, könnte nützlich
              sein, wenn wir uns jetzt Richard Brodie zuwenden, einem ehemaligen
              Microsoft-Mann und erfolgreichen Unternehmer, der schon 1996 ein Buch mit dem
              Titel „Virus of the Mind“ publizierte, ein frühes Werk der Wissenschaft von den
              Memen.
            Allerdings
              ein ziemlich parteiisches. Das Titelbild ziert ein Gehirn, in das eine Spritze
              gesteckt wird, wohl um es mit bösen Viren zu infizieren. Und eine Besprechung
              des Buchs beginnt reißerisch so: »Unser Gehirn wird fortlaufend von „Viren des
              Geistes“ infiziert und verändert, wenn diese vor allem durch das Drücken der
              Knöpfe „Angst“, „Essen“ und „Sex“ das kognitive Immunsystem unterlaufen.« 
            Bild
              und Text sprechen Bände. Offenbar ist unser Geist etwas Festes und
              Unverrückbares wie unser Körper und bedarf genau wie dieser des Schutzes vor
              unbefugten Eindringlingen. Kein offenes System also, das vom Austausch mit
              seiner Umwelt lebt und sich dank dessen ständig weiter entwickelt, sondern eher
              eine feste Burg, für die jede Veränderung bedrohlich ist. Tja, so kann man es
              offenbar auch sehen, wenngleich das nicht mein Bild vom Geist ist.
            Jedenfalls
              nicht mein vorherrschendes. Natürlich ist unser Geist kein vollständig offenes
              System, er hat seine stabilen Anteile und will diese zu Recht aufrechterhalten.
              Und natürlich gibt es Meme, die uns nicht gut tun, ja ausgesprochen ungesund
              sind, weshalb es gut ist, dass wir zu deren Abwehr tatsächlich so etwas wie ein
              geistiges Immunsystem entwickeln und pflegen. Das gilt übrigens für unsere
              persönliche, individuelle Ebene genau so wie für kulturelle Gemeinschaften:
              Ohne geistiges Immunsystem werden wir allzu leicht zur Beute von schädlichen und
              destruktiven Ideen. 
            Doch
              auch geistige Immunsysteme können außer Kontrolle geraten und sich dann wahllos
              gegen alles wenden. Dann werden sämtliche Falltüren und Rollläden herunter
              gelassen, kein frischer Hauch kann mehr eindringen, und das verteidigte geistige
              Gebäude bleibt zwar stehen, doch seine Insassen drohen an Muffigkeit zu
              ersticken. Wahrlich keine schöne Aussicht, und ganz bestimmt nicht im Sinne der
              kulturellen Evolution.
            Dieser
              Hang zur geistigen Abschottung ist zum Teil uralt: Die Evolution hat ihre
              konservativen Seiten, und diese übernehmen wir, einem geistigen
              Trägheits-Prinzip folgend, gerne, indem wir neue Meme mit den alten nach der
              Art von „das haben wir immer so gemacht“ abwehren. Neu dazu gekommen ist beim
              modernen Menschen die explosionsartige Zunahme der schieren Anzahl neuer Meme,
              die täglich auf uns einströmen. Diese Informationsüberflutung macht es uns
              schwer, zwischen nützlichen und schädlichen Memen zu unterscheiden, und darauf
              reagieren wir, indem wir einfach gar keine mehr zulassen. 
            Das
              ist verständlich, aber nicht sehr klug. Es wäre vermessen anzunehmen, der
              derzeitige Stand unseres Meme-Portfolios sei schon der Weisheit letzter
              Schluss. Unser Geist hat einen angeborenen Drang, sich weiter zu entwickeln,
              und dazu braucht er Anregungen und frischen Wind von außen, oder, anders
              gesagt, Offenheit gegenüber neuen Memen, die um seine Aufmerksamkeit buhlen.
            Wir
              müssen diese neuen Meme ja nicht genau so übernehmen, wie sie bei uns ankommen.
              Wir können sie modifizieren, sie neu kombinieren und sie so insgesamt für uns
              passend machen. Geistige Impulse sind keine Blaupausen, sondern Rohmaterialien
              zu unserem beliebigen Gebrauch.
            Eines
              steht allerdings fest: Meme buhlen tatsächlich um unser vielleicht kostbarstes
              Gut, um unsere Aufmerksamkeit. Neue Meme können sich nämlich nicht einfach
              unbemerkt durch den Hintereingang in unseren Geist schmuggeln, sie haben nur
              dann eine Chance, dort aufgenommen zu werden, wenn sie durch den Haupteingang
              der bewussten Aufmerksamkeit eingelassen werden. Also brauchen wir dort einen
              sehr tüchtigen Türhüter.
            Dieser
              muss fähig sein, nicht nur Ansteckungs-Risiken zu erkennen, sondern eben auch
              Ansteckungs-Chancen. Lachen, so weiß der Volksmund, ist ansteckend. Eine gute
              Idee auch, ebenso starke Emotionen wie Begeisterung. Noch weiß der Volksmund
              nicht, welch große Ansteckungs-Chancen in starken Memen stecken, deren Zeit
              gekommen ist. Aber vielleicht weiß es das Volk ja trotzdem schon. Oder
              wenigstens ein bedeutsamer Teil desselbigen...