
          Text und Bild: 
            Andreas Giger
          Erst allmählich begreifen wir, wie sehr sich 
            in den letzten drei Jahrzehnten unser Verhältnis zum eigenen 
            Leben verändert hat: Wir sind von Lebensverwaltern zu Lebensgestaltern 
            geworden. 
          Verwalter führen das aus, was ihnen andere 
            vorgeben, sie sind weder in der Wahl der Ziele noch der Wege dahin 
            frei. Gestalter dagegen können selber über Ziele und Wege 
            entscheiden. Die einmal so mächtigen Instanzen wie Staat und 
            Kirche, Partei oder Gewerkschaften haben ihren Einfluss auf unsere 
            Lebensgestaltung weitgehend verloren. Jede Einzelne und jeder Einzelne 
            kann heute in einem bisher nie gekannten Ausmaß selber wählen, 
            wie sie oder er das eigene Leben gestalten will. Und das ist gut so.
          Wir dürfen und wir können unsere Lebensgestaltung 
            frei und eigenverantwortlich in unsere eigenen Hände nehmen. 
            Aber wir müssen auch. Und das ist nicht immer ganz einfach. Mit 
            neu gewonnenen Freiheiten muss man erst mal umgehen lernen, und so 
            macht die Qual der Wahl auch bei der Lebensgestaltung manchmal Mühe. 
            Immerhin gilt es knifflige Fragen zu beantworten. Zum Beispiel die: 
            Wonach richte ich mein Leben aus, welches Bild schwebt mir bei meiner 
            Lebensgestaltung vor ? Oder, noch prägnanter: Worum geht es eigentlich 
            in meinem Leben ?
          Leitwert Lebensqualität
          So seltsam es unter dem Zeichen der Indivualisierung, 
            in der wir immer mehr individuelle Wahlfreiheiten haben, klingen mag: 
            Auf diese Frage finden mehr und mehr Menschen eine übereinstimmende 
            Antwort: Es geht um Lebensqualität. Lebensqualität wird 
            zum Leitwert der Lebensgestaltung.
          Lebensqualität, das ist seelisches und körperliches 
            Wohlbefinden, aber auch ein intaktes soziales und menschliches Umfeld. 
            Das ist Wissen und Lebenssinn. Das ist Entwicklung und Vertrauen, 
            Autonomie und Authentizität, das ist auch der passende Ort in 
            Raum und Zeit. Lebensqualität ist vieldimensional, es gibt sie 
            dann, wenn auf allen Feldern des Lebens Zufriedenheit herrscht.
          Und natürlich ist Lebensqualität individuell. 
            Es gibt keine allgemein gültigen Maßstäbe dafür. 
            Doch es ist möglich, Einigkeit darüber zu erzielen, was 
            alles dazu gehört. So werden die einen bei der Frage, an welchem 
            Ort sie am liebsten leben, weil er ihnen Kraft gibt, die Stadt wählen 
            und andere das Land, doch beide brauchen sie für ihre Lebensqualität 
            den für sie passenden Lebensort.
          Eine der größten Herausforderungen 
            bei der Lebensgestaltung im Sinne von bestmöglicher Lebensqualität 
            besteht darin, die einzelnen Bereiche des Lebens, etwa Arbeit und 
            Freizeit, so miteinander zu verbinden, dass zwischen ihnen Balance 
            herrscht, ein fließendes Gleichgewicht. Wird nämlich ein 
            Bereich zu stark betont, werden andere vernachlässigt, und das 
            ist ein Lebensqualitäts-Killer. Gefragt ist von erfolgreichen 
            Lebensgestalterinnen und Lebensgestaltern ein hoch entwickelter Sinn 
            für das richtige Maß.
          Und damit taucht eine weitere spannende Frage 
            auf: Ist Lebensgestaltung eigentlich eine Kunst ? Die deutsche Sprache 
            kennt in diesem Zusammenhang beides, die Lebenskunst und den Lebenskünstler. 
            Letzterer genießt allerdings keinen besonders guten Ruf. Wir 
            verbinden ihn gerne mit Eigenschaften wie Leichtsinn oder gar Schmarotzertum, 
            beneiden ihn zwar manchmal heimlich, würden ihn jedoch nie ernsthaft 
            zum Vorbild nehmen.
          Lebens-Kunst ?
            
          Schade eigentlich. Schließlich übt 
            der Lebenskünstler, ganz neutral betrachtet, einfach eine Kunst 
            aus, deren Wert gerade im Steigen begriffen ist: die Lebens-Kunst. 
            Eine wachsende Zahl von Büchern und Seminaren verspricht, diese 
            Kunst zu lehren. Selbst die gute alte Philosophie besinnt sich auf 
            ihre Wurzeln, wo sie genau dies war, eine Schule der Lebens-Kunst, 
            und genießt entsprechende Wertschätzung. 
          Das Leben als Gesamtkunstwerk, bei dem der Entstehungsprozess 
            wichtiger ist als das Endprodukt ? Ein künstlerischer Prozess, 
            der um des Künstlers willen stattfindet, und nicht in erster 
            Linie wegen des Publikums ? Die Vorstellung gefällt mir, ebenso 
            übrigens wie jene, dass Lebensgestaltung mit dem Leitwert Lebensqualität 
            genau so offensichtlich ins Reich der Qualitäten gehört 
            wie die Kunst. Besser jedenfalls als die Idee vom Lebensunternehmertum, 
            bei dem es primär um Quantitäten, sprich um Zahlen, geht.
          Ich fürchte allerdings, dass wir mit dem 
            Anspruch, Lebensgestaltung müsse immer Lebens-Kunst sein, die 
            Sprunglatte etwas gar hoch legen. Wohl sind wir, gängigen Theorien 
            zufolge, alle immer auch irgendwo Künstlerinnen und Künstler, 
            und dennoch wissen wir, dass die wenigsten auserwählt sind, mit 
            der richtigen Mischung aus Talent, Übung und Glück wirklich 
            Kunst hervorzubringen. Auch bei der Lebens-Kunst müssen somit 
            viele scheitern, wenn sie an sich selbst zu hohe Ansprüche stellen, 
            und das beeinträchtigt die Lebensqualität ungemein. Und 
            heißt es nicht irgendwo "ernst ist das Leben, heiter ist die 
            Kunst" ? Beides wirklich zu vereinen, ist ebenfalls ein hoher künstlerischer 
            Anspruch.
          Oder doch lieber Lebens-Kunsthandwerk ?
            
          Bescheidener und damit realistischer dürfte 
            es da schon sein, Lebensgestaltung als Kunsthandwerk zu verstehen. 
            Das lässt sich leichter lernen als hohe Kunst. Und bedeutet keineswegs 
            niedrigere qualitative Ansprüche. Nur eben etwas mehr Bescheidenheit, 
            auch im Anspruch, alles im eigenen Leben autonom gestalten zu können. 
            Kunsthandwerker wissen, dass sie "nur" mit dem vorhandenen Material 
            arbeiten können, dass sie daraus nur mit ihm und nicht gegen 
            es jene Gestalt heraus holen können, die drin steckt und möglich 
            ist. Das braucht beides, Mut und Demut, und erst noch die Weisheit, 
            zwischen Unabänderlichem und Gestaltbarem unterscheiden zu können. 
            Das wiederum erfordert Erfahrung und Zeit, auch edles Kunsthandwerk 
            muss reifen. 
          Lebensgestaltung als Lebens-Kunsthandwerk mit 
            der Richtschnur, möglichst gute Lebensqualität für 
            sich und andere zu erzielen - das erscheint mir eine für uns 
            Normalsterbliche erreichbare und gleichzeitig attraktive Vision zu 
            sein. Solche sind derzeit nicht gerade massenhaft im Umlauf. Das Lebens-Kunsthandwerk 
            hat deshalb eine goldene Zukunft...
           
          Unveröffentlichtes Manuskript © 
            2004 by Andreas Giger