Zufriedenheit: das 
            unterschätzte Mauerblümchen
          
          Ich mag Mauerblümchen. Das können Sie 
            zunächst ganz wörtlich nehmen. Ich liebe die kleinen Blumen, 
            die unscheinbar und fast verborgen blühen und deshalb dem Betrachter 
            eine eigene Anstrengung abverlangen, wenn dieser ihre Schönheit 
            wahrnehmen will. 
          Dabei habe ich gar nichts gegen die strahlende 
            Schönheit üppig blühender Blumenpracht einzuwenden, 
            die einem direkt ins Auge springt. In meinem Begriff von Schönheit 
            hat beides Platz, und ich möchte weder die eine noch die andere 
            ihrer Ausprägungsformen missen.
          Im Zweifelsfalle jedoch schlägt mein Herz 
            für die Kleinen. Und mein Kopf liefert dazu ein kühles Kalkül, 
            indem er an die Bilanz des zweiten Blickes erinnert: Bei der strahlenden 
            Schönheit ist, wenn die erste Blendung erst mal vorbei ist, die 
            Wahrscheinlichkeit groß, dass doch irgendeine dunkle Stelle 
            oder ein Makel sichtbar wird. Der zweite Blick bringt also vermutlich 
            eine Enttäuschung.
          Selbst wenn sich die strahlende Schönheit 
            tatsächlich als perfekt erweisen würde, änderte das 
            nichts an dieser Enttäuschung, denn dadurch würde sie kalt 
            und steril und leblos wirken, weil Lebendiges nie perfekt ist.
          Genau umgekehrt verhält es sich beim zweiten 
            Blick auf ein Mauerblümchen. Hier ist die Wahrscheinlichkeit 
            groß, dass wir dabei verborgene Reize und Schönheiten entdecken. 
            Unsere ursprünglichen Erwartungen werden dabei übertroffen. 
            Schlimmstenfalls entdecken wir nichts. Dann entspricht die Realität 
            unserer ersten Erwartung und liegt nicht darunter wie bei der strahlenden 
            Schönheit.
          Somit fällt der Bilanzvergleich des zweiten 
            Blickes eindeutig zugunsten des Mauerblümchens aus. Das ist kein 
            Einwand gegen die Faszination des ersten Blickes, wohl aber ein Plädoyer 
            für mehr bewusste Aufmerksamkeit für die Mauerblümchen. 
            Schließlich beschert uns das Leben wesentlich mehr zweite und 
            dritte Blicke als erste.
          Ein Mauerblümchen-Dasein fristet noch die 
            Zufriedenheit. Sie steht ganz im Schatten ihres großen Geschwisters, 
            des Glücks. Diesem gilt unser ganzes Streben und Wünschen. 
            Wir wünschen uns bei allen möglichen Gelegenheiten gegenseitig 
            Glück, und die Verfassung der USA gesteht ihren Bürgern 
            ausdrücklich das Recht auf Streben nach Glück zu. 
          Der König von Bhutan vertritt die Überzeugung, 
            das "Bruttoglücksprodukt" sei für seine Untertanen 
            wichtiger als das Bruttoinlandsprodukt. Und eine wachsende "Glücksforschung" 
            versucht, wissenschaftlich abgesichert herauszufinden, wie man glücklich 
            wird. Ihre Erkenntnisse bilden zusammen mit jenen von anderen selbsternannten 
            Glücksexperten die Basis für ein florierendes Angebot an 
            Büchern und Kursen zum Glücklichwerden. Die Jagd nach dem 
            Glück wird zum Geschäftsmodell.
          Nun ist Jagdfieber allerdings ein schlechter Ratgeber. 
            Klüger ist es, sich zu fragen, ehe zur Jagd geblasen wird, ob 
            die potenzielle Beute eigentlich ein realistisches Ziel sei. Und, 
            falls ja, auch ein lohnendes.
          Zum Glück sind wir im Falle des Glücks 
            zur Beantwortung dieser Fragen nicht allein auf die aktuellen Glücksratgeber 
            abgewiesen. Das Streben nach Glück scheint so sehr in der menschlichen 
            Natur angelegt zu sein, dass sich die besten Dichter und Denker früh 
            dazu herausgefordert sahen, sich mit dem Thema zu beschäftigen.
          Ihr Urteil ist insgesamt, verzeihen Sie die klare 
            Sprache, vernichtend. Glück ist weder ein realistisches noch 
            ein erstrebenswertes Ziel. Wobei dies Denker, genau so übrigens 
            wie Sie und ich, sehr wohl zu differenzieren wissen: Glück existiert 
             in kostbaren Momenten. Auslöser für solche Momente 
            des Glücks kann alles Mögliche sein. Gemeinsam ist ihnen 
            allen, dass es sich dabei um ein Geschenk handelt, von wem auch immer, 
            aber auf keinen Fall zu planen oder zu kontrollieren. Dass es zu einem 
            geglückten Leben gehört, solche geschenkten Glücksmomente 
            dankbar anzunehmen und sich an ihnen gebührend zu erfreuen, versteht 
            sich von selbst.
          Das Unglück entsteht erst, wenn wir diese 
            Momente unbedingt in Richtung Unendlichkeit verlängern wollen: 
            ... denn alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit. Da 
            hatte der alte Schnauzbart Nietzsche schon Recht. Es gibt diese Stimme 
            in uns  und es gibt auch jene andere, die genau weiß, 
            dass permanentes Glück für menschliche Geschöpfe nicht 
            vorgesehen ist und damit ein völlig unrealistisches Ziel darstellt. 
            
          Und selbst wenn das Glück in Form der Glücksgöttin 
            reiche Spende über einigen wenigen "Glücklichen" 
            ausschüttet, ist das alles andere als eine Glücksgarantie: 
            Lottogewinner sind zwar einige Wochen lang glücklicher als vorher, 
            doch das pendelt sich sehr rasch wieder auf den alten Zustand ein, 
            trotz der Millionen.
          Was also machen wir mit unserem Streben nach Glück, 
            das uns ja auch Schwung verleiht? Gibt es ein realistischeres und 
            lohnenderes Ziel, das wir  mit demselben Schwung  stattdessen 
            anpeilen könnten? 
          Ja. Zufriedenheit. Ich weiß, dieses Mauerblümchen 
            hat einen schlechten Ruf, gilt als spießig, unattraktiv, grau, 
            langweilig, bestenfalls für alte und längst resignierte 
            Menschen geeignet. In diesem Büchlein möchte ich Sie zum 
            zweiten Blick auf dieses Mauerblümchen einladen.
          Ein paar Zückerchen vorweg: Erstens ist Zufriedenheit 
            als Dauerzustand wesentlich realistischer als permanentes Glück. 
            Zweitens schafft im Gegensatz zum hektischen Streben nach Glück 
            die bewusste Achtsamkeit für Zufriedenheit einen Zustand von 
            Seelenruhe und Seelenfrieden, was ungemein wohltuend sein kann, wie 
            ich aus eigener Erfahrung weiß.
          Und drittens liegt Zufriedenheit viel stärker 
            in unserer eigenen Hand als Glück. Es ist wie beim Mauerblümchen: 
            Indem wir wenig erwarteten, werden wir von der Realität nicht 
            enttäuscht, sondern im Gegenteil beglückt, und das macht 
            uns zufrieden. Wir können also unsere Zufriedenheit mit der Realität, 
            die wir nicht beeinflussen können, verbessern, wenn wir unsere 
            Erwartungen, die wir sehr wohl beeinflussen können, reduzieren.
          Natürlich kann man auch das übertreiben, 
            dann werden wir übertrieben bescheiden. (Siehe dazu Jenseits 
            von Kundenzufriedenheit) Doch mit dem richtigen Maß angewandt, 
            funktioniert der Trick. Es gibt Spielräume, innerhalb derer wir 
            unsere Zufriedenheit frei beeinflussen können. Das ist für 
            Lebensgestalterinnen und Lebensgestalter eine gute Nachricht. Und 
            ein ebenso guter Grund dafür, sich als Element bewusster LebensKunst 
            näher auf das unterschätzte Mauerblümchen namens Zufriedenheit 
            einzulassen. 
          Ach übrigens, bevor ich es vergesse: Eigentlich 
            ist Zufriedenheit gar kein Mauerblümchen mehr, jedenfalls nicht 
            bei der Bewusstseins-Elite, zu der Sie als LeserIn dieses Bändchens 
            zweifellos gehören. In meiner dort erhobenen "Hitparade 
            der heißen Werte" ist Zufriedenheit innerhalb der letzten 
            rund zwei Jahre von Platz fünfzehn auf Platz vier empor geschossen. 
            Eine bemerkenswerte Karriere vom Mauerblümchen zum heißen 
            Wert  fürwahr. 
          
          Dieser Text ist das erste Kapitel aus 
            dem ittlerweile fertig geschriebenen Bändchen Zufriedenheit 
            aus der Reihe LebensKunst 
            kompakt. Text und Bild Andreas Giger.